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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 4 Min.

Work-Life-Balance oder was?

Carte Blanche

Work-Life-Balance oder was?

Tätig sein ist ein unabdingbarer Teil des Lebens. Nie bisher mussten wir Menschen für unseren Lebensbedarf so wenig Arbeit aufwenden. Trotzdem empfinden viele von uns Arbeit als Ballast. Eine Reflexion über die Work-Life-Balance und ein Aufruf.

Eine gute Balance zwischen Aktivität und Erholung, zwischen Arbeit und Ruhe ist entscheidend dafür, dass wir alle Herausforderungen des Lebens langfristig bewältigen können und dabei gesund bleiben. 

Aufgrund der rasanten technologischen, sozialen und demographischen Entwicklung haben wir Menschen uns von den naturgegebenen Taktgebern von Aktivität und Ruhe wie Tag, Nacht und Jahreszeiten entfernt. Als neues Metronom hat sich in den letzten Jahrzehnten stattdessen der Begriff Work-Life-Balance etabliert. 

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Bei Work-Life-Balance denken wir in aller Regel an die Verteilung zwischen Arbeitszeit und Frei- / Familienzeit. Im Interesse einer guten Work-Life-Balance reduzieren wir oft die beruflichen Arbeitsstunden. Viele von uns arbeiten Teilzeit oder können sich vorstellen, die Arbeitszeit zu reduzieren. 

Berufliche Teilzeitarbeit ist in manchen Lebenssituationen eine geeignete Lösung. Beispielsweise wenn Care-Arbeit in der Familie ansteht – sei es zur Pflege und Betreuung von Kindern oder kranken Familienangehörigen oder bei anderen regelmässigen ausserberuflichen Tätigkeiten. Präventiv oder therapeutisch bei verschiedensten Beeinträchtigungen.

Teilzeitarbeit darf aber ruhig auch kritisch betrachtet werden. Zum Beispiel dann, wenn die Arbeit im Rahmen eines heutzutage verbreiteten Lifestyles auf das notwendige Minimum reduziert wird. Bei dieser Lebensphilosophie soll das erarbeitete Einkommen ausreichen für die Finanzierung eines guten Lebens im Jetzt, mit viel Zeit für andere Interessen. Die finanzielle Vorsorge für ein gutes Leben im Alter bzw. nach der Pensionierung wird dabei hintangestellt.

Teilzeitarbeit kann Flucht sein aus Berufen, die wegen zunehmender Verknappung an Fachpersonen immer anstrengender und stressiger werden. Wer sich so ausklinkt, will seine Kräfte schonen und sich vor dem Risiko einer Erschöpfung schützen. 

Was für den Einzelnen verlockend und sinnvoll sein kann, wirkt sich ungünstig auf die gesamte Workforce eines Berufs aus. Dies ist besonders schwerwiegend, wo bereits ein kritischer Mangel an Fachpersonen besteht, wie in der Hausarztmedizin oder in der Pflege. Die Arbeit muss von immer weniger Personen bewerkstelligt werden. Die steigende Belastung wird zu Stress und die Zufriedenheit sinkt, mit den damit verbundenen gesundheitlichen Folgen.

Zum Füllen der Lücken müssen Fachpersonen aus immer ferneren Ländern angelockt werden, aus Sicht dieser Länder ein «brain drain». Bei ihnen zu Hause fehlen diese Berufsleute schmerzlich. Ein ethisches Dilemma. 

Zeitmangel und vermehrter Wechsel von Betreuungspersonen kann zu therapeutischen Verzögerungen und einem Risiko für die Qualität führen, gerade in unserem ärztlichen Beruf, bei dem Beziehung und Vertrauen sowie ein implizites Wissen um den Kontext des Patienten oder der Patientin einen tragenden Stellenwert einnehmen. 

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Eine andere Sicht auf die Work-Life-Balance ist es, beide, die Arbeitszeit und die Freizeit balanciert und lebenswert zu gestalten. Die Arbeitszeit so, dass man sich dabei nicht erschöpft, sondern eine positive Energie gewinnt, die man in die Frei- und Familienzeit hinübernehmen kann.

Es geht dabei um die Förderung der beruflichen Zufriedenheit und einer energieeffizienten Arbeitsumgebung. Dazu gehören schwergewichtig folgende Essenzen: klare Aufträge, genügend Zeit und gestalterischer Spielraum zu einem sinnstiftenden Erfüllen der Aufgaben, die Pflege von wohlgesinnten horizontalen und vertikalen Beziehungen, gegenseitiger Respekt, Solidarität, Wertschätzung der Arbeit, eine kompetente Leitung, eine gute Fehlerkultur, die Möglichkeit eines zeitnahen Ansprechens von Problemen unter den betroffenen Personen und Teams, genügend Gelegenheit zur Reflexion seines Tuns. Zudem müssen wir lernen, während der Arbeit immer wieder Momente der Entspannung einzusetzen und zu uns selbst zu finden. 

Ein Aufruf
Wir sind in der Schweiz so viele Ärztinnen und Ärzte wie nie zuvor und doch sind wir zu wenige. Wenn alle teilzeitarbeitenden Kolleginnen und Kollegen, bei denen es möglich ist, 10 oder 20% mehr arbeiten würden, könnten wir bestimmt einen schönen Teil des Hausärztemangels auffangen. Die Patientinnen und Patienten würden es uns danken.

Bruno Kissling, Hausarzt im Ruhestand