Gastbeitrag
ADHS bei Erwachsenen: Popcorn im Kopf und der Kampf gegen die Uhr
Bei ADHS denken viele an zappelige Kinder. Doch auch Erwachsene sind betroffen, oft ohne es zu merken. Was im Kinderzimmer beginnt, wird im Alltag zur Achterbahnfahrt zwischen kreativen Höhenflügen und Chaos. Wie bekommt man dieses innere Durcheinander in den Griff?
Stellen Sie sich vor, Sie wollen sich konzentrieren, aber in Ihrem Kopf herrscht Chaos: Gedanken springen wie Popcorn im Topf. Alles passiert gleichzeitig. Am Ende bleiben Frust und das Gefühl, wieder nichts geschafft zu haben. So ist ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung): Volldampf und trotzdem auf der Stelle treten.
ADHS – mehr als nur ein «Kinder-Ding»
Vergessen Sie das Bild vom zappeligen Kind. Rund drei bis vier Prozent der Erwachsenen haben ADHS, oft unerkannt. Die Symptome verändern sich im Laufe des Lebens: Bei Kindern steht oft Hyperaktivität im Vordergrund, später dominieren Unaufmerksamkeit und Begleiterkrankungen wie Depressionen. Hinzu kommen Probleme mit der Exekutivfunktion – der Fähigkeit, Aufgaben zu planen und emotionale Dysregulation, die zu Stimmungsschwankungen führt. Diese Herausforderungen erschweren den Alltag.
Diagnose und Behandlung
ADHS wird im klinisch-psychiatrischen Gespräch diagnostiziert, wozu eine gründliche Anamnese mit Psycho- und Somatostatus gehört. ADHS kann so von anderen Störungen differenziert oder komorbid ergänzt werden. Ein gängiger Screening-Test in der hausärztlichen Praxis ist die ADHS-Selbstbeurteilungsskala (ASRS), die erste Hinweise geben kann. Blutdruck, Puls und Gewicht sollten während der Einnahme von Stimulanzien regelmässig kontrolliert werden.
ADHS ist kein «Pille-drauf-und-fertig»-Thema. In der Schweiz sind verschiedene Stimulanzien kassenzulässig: Methylphenidat (Concerta®, Medikinet® MR), Dexmethylphenidat (Focalin®) und Lisdexamfetamin (Elvanse®). Ritalin® ist für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre (SL bis 18). Stimulanzien regulieren die neurochemische Dysbalance, haben hohe Effektstärken, geringe Nebenwirkungen und wenig Interaktionen. Sie können vom Kindes- bis ins hohe Erwachsenenalter eingesetzt werden. Eine Suchtentwicklung ist selten, da die Dosierung von Betroffenen meist passgenau angewandt wird.
Nach einer fachpsychologischen konsiliarischen ADHS-Abklärung und der personalisierten (individuell titrierten) fachpsychiatrischen Stimulanzien-Einstellung soll hausärztlich weiterbehandelt werden – so wie es nach neurologischen, kardiologischen oder anderen somatischen Konsilien üblich ist.
Studien zeigen, dass die Kombination von Medikamenten, Kognitiver Verhaltenstherapie, Coaching und Ergotherapie die besten Ergebnisse zeigt, um den Alltag zu strukturieren und die Exekutivfunktionen zu verbessern.
Leben zwischen Ordnung und kreativer Freiheit
ADHS geht oft mit Depressionen, Ängsten oder Suchtproblemen einher, welche die Lebensqualität verschlechtern. Genaue Diagnosen und passende Therapien sind deswegen entscheidend. Wer ADHS als Entschuldigung für schlechtes Verhalten nutzt oder aber zur besonderen Gabe romantisiert, versteht weder ADHS noch die schädigenden Folgen.
ADHS bedeutet für Betroffene vor allem eine ständige Suchen nach der Balance zwischen kreativer Freiheit und ordnender Struktur. Mit der richtigen Mischung aus therapeutischen Optionen sowie Attesten für Ausbildung (Nachteilsausgleich) und Mobilität (Reisebescheinigung) lässt sich ein erfülltes Leben führen.
Zahlen und Fakten
- Prävalenz ADHS: Etwa 3–5 % der Schweizer Erwachsenen zeigen ADHS-Symptome.
- Anstieg der Diagnosen: Zunahme der ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen um ca. 50 % in den letzten Jahren aufgrund verbesserter Diagnoseverfahren.
- Medikamentenverschreibungen: Die Verschreibungen von ADHS-Medikamenten wie Methylphenidat stiegen laut Obsan um etwa 40 % bei Erwachsenen in den letzten Jahren.
- Späte Diagnosen bei Frauen: Ca. 2 % der betroffenen Frauen werden erst im Erwachsenenalter diagnostiziert, da oft der unaufmerksame Typ (ADS) vorliegt.
Diese Zahlen verdeutlichen, dass nicht nur die Diagnoserate, sondern auch die medikamentöse Behandlung bei ADHS im Erwachsenenalter in der Schweiz stark zugenommen hat, was unter anderem auf eine verbesserte Diagnosestellung und Sensibilisierung zurückzuführen ist.
Quellen: OBSAN (Das Schweizerische Gesundheitsobservatoriums), BAG, Psychiatrie Baselland, Hirslanden-Gruppe