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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 5 Min.

«Integrierte Versorgung» muss von unten aufgebaut werden

Politik

«Integrierte Versorgung» muss von unten aufgebaut werden

Die Gesundheitsdirektion des Kantons Bern wischt Bedenken der Stakeholder beiseite und legt eine Teilstrategie «integrierte Versorgung» vor, in der die Spitäler eine zentrale Rolle übernehmen sollen. Damit zäumt sie das Pferd von hinten auf – und verschenkt das Potenzial einer echten Koordination in der Gesundheitsversorgung.

Die Gesundheitsstrategie des Kantons Bern 2020-2030 steht seit August 2020. Gut drei Jahre später, laufen die Arbeiten an der ersten von sechs Teilstrategien, anhand derer einzelne Bereiche konkretisiert werde sollen. Diese Teilstrategien sollten zusammen mit so genannten externen Begleitgruppen erarbeitet werden. Ziel: Stakeholder einbeziehen, die Teilstrategie «bottom up» entwickeln. 

Nach einer Sitzung der Begleitgruppe im Sommer und schriftlichen Rückmeldungen der Stakeholder zum Vorentwurf der Teilstrategie «integrierte Versorgung» erreicht uns im Oktober die Einladung zur Teilnahme am öffentlichen Konsultationsverfahren. Plötzlich geht es schnell – und zwar ohne Berücksichtigung der von den Stakeholdern zuvor eingebrachten Bedenken und Vorschläge.

Im Schreiben an die Begleitgruppe heisst es denn auch: «Aus Ihren mündlichen und schriftlichen Rückmeldungen ist deutlich geworden, dass die Leistungserbringer:innen und ihre Verbände eine andere Erwartungshaltung an den Zweck, die Ausrichtung und den Detailierungsgrad der Teilstrategie haben als das Gesundheitsamt bzw. die Verwaltung. (…).  Das Gesundheitsamt hält daher am eingeschlagenen Weg fest.» Man nimmt es ernüchtert zur Kenntnis.

Falsch aufgezäumt: Spitalzentrierte Ausrichtung sorgt für Kritik

Die Kritik an der Teilstrategie ist keine Kritik an der «integrierten Versorgung», sondern richtet sich dagegen, «integrierte Versorgung» «top-down» zu entwerfen. So tut es die Teilstrategie, denn sie sieht die Spitäler künftig in der zentralen Rolle, wenn es um «integrierte Versorgung» geht oder die GSI beim Aufbau von Netzwerken. 

Übrigens: Nicht nur die Haus- und Kinderärzt:innen und andere Grundversorger:innen üben Kritik an dieser «top down»-Logik mit Leistungserbringern aus dem stationären Setting als Drehscheiben, auch die Spitäler selber haben grosse Bedenken geäussert. 

Ein Modell, bei dem die Spitze der Versorgungspyramide (Spitäler) Behandlungspfade koordiniert, macht keinen Sinn, allein schon aus Kapazitätsüberlegungen. Es zäumt das Pferd von hinten auf. Rund 94 % der medizinischen Anliegen können durch die Grundversorgerpraxen abschliessend behandelt werden, sie verursachen dabei knapp 8 % der Gesundheitskosten. 

Der Aufbau der Strategie muss deshalb mit Fokus auf die Grundversorgung erfolgen. Selbstverständlich sollen die weiteren Leistungserbringer dieser Sparte (Spitex, Sozialdienste, Physiotherapie, psychiatrische Dienstleister, Prävention etc.) ebenso eingebunden und berücksichtigt werden wie die Anliegen der Patient:innen.

Vernetzung in der Grundversorgung fördern

Der koordinierten Versorgung gehört die Zukunft, sie ist zu fördern, darüber bestehen keine Zweifel. Die Haus- und Kinderärzt:innen leben diese in der täglichen Praxis und im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten seit eh und je. Die Steuerung von Behandlungswegen unserer Patient:innen und die Koordination mit anderen Leistungserbringer:innen gehört zu den eigentlichen Kernaufgaben der haus- und kinderärztlichen Praxistätigkeit. Die Vernetzung muss deshalb zwingend «bottom up» geschehen. 

Im Zentrum einer Gesundheitsstrategie muss die Bevölkerung stehen, umgeben von einer vernetzten Grundversorgung, diese ihrerseits umgeben von einer effizienten Spitallandschaft. Erfolgreiche Modelle von funktionierenden Ärztenetzwerken gibt es im Kanton Bern viele und dies bereits seit über 20 Jahren. Ihr Erfolg beruht mitunter auf den verbesserten Rahmenbedingungen für die an den Netzen angeschlossenen Grundversorger:innen und Patient:innen. 

Hier liegt denn auch das grösste Potenzial zur Förderung der koordinierten Versorgung: Es gilt, die Voraussetzungen für die in der Grundversorgung tätigen Leistungserbringer:innen zu verbessern, damit die Koordination im Sinne der «integrierten Versorgung» gelingt. 

Wenig vielsprechend scheint dagegen, auf dem Reissbrett unter dem Label «integrierte Versorgung» und mit viel Public Relations neue Modelle zu promoten, hinter denen in erster Linie private Spitalanbieter und Versicherungen stecken, die aber noch kaum Patient:innen gesehen haben. Der Beweis, dass ein spitalzentriertes Modell wie das Réseau de l’Arc funktioniert, steht jedenfalls noch aus.

Rahmenbedingungen verbessern

Wer echte «integrierte Versorgung» fördern will, tut dies nicht über verordnete Zuweisung von Rollen, sondern durch Anpassungen von Rahmenbedingungen, wie sie seit Jahren diskutiert, aber kaum umgesetzt werden. Einige Beispiele und konkrete Vorschläge:

  • Die Tätigkeiten von MPA (medizinischen Praxisassistentinnen) und MPK (medizinische Praxiskoordinatorinnen) müssen gefördert und angemessen entschädigt werden, ebenso muss ihre Ausbildung im Hinblick auf die Herausforderungen der Zukunft besser gefördert werden.
  • Auch und gerade «integrierte Versorgung» braucht Personal, das an den entsprechenden Orten, also insbesondere in den Praxen, aus- und weitergebildet wurde. Notwendig ist gezielte Nachwuchsförderung in Grundversorgerpraxen (v.a. Assistenzarztprogramme, MPA- / MPK-Ausbildung).
  • Es braucht Anpassungen auch auf der Tarifebene, einerseits durch eine längst fällige Anhebung des Taxpunktwertes (TPW), gegebenenfalls mit einem TPW-Splitting. Zudem muss andererseits Koordinationsarbeit im Sinne der «integrierten Versorgung» zwingend entschädigt werden, auch die von nichtärztlichen Berufen geleistete Koordination.
  • Ein wichtiger Bestandteil der «integrierten Versorgung» bildet die Präventionsarbeit. Sie wird tarifarisch heute kaum abgebildet. Präventionsleistungen müssen gefördert und auch entsprechend entschädigt werden. Sie leisten den nachhaltigsten Beitrag zur Kostendämpfung.
  • Pilotversuche müssen unkompliziert genehmigt und finanziell unterstützt werden, damit Innovation gelingen kann. Innovation entsteht oftmals kleinräumig, zu hohe Anforderungen an Pilotversuche behindern solche Modelle und damit echten Fortschritt, der «bottom up» wächst.


Für die geforderte «bottom up»-Versorgung wäre eine zentrale Stellung der Grundversorger:innen unbedingt nötig. Diese betreuen die Patient:innen primär und können den Grossteil der Probleme im ambulanten Setting lösen. Der grösste Teil der Patient:innen hat gar keinen Spitalkontakt, wieso gerade die Spitäler dann die führende Rolle im Rahmen einer «integrierten Versorgung» übernehmen sollen, erschliesst sich nicht.