5 Fragen an...
«Die Nachwuchsförderung ist eine zentrale Aufgabe der Haus- und Kinderarztmedizin»
Myriam Perren ist Kinderärztin und seit Ende März Vorstandsmitglied und Vizepräsidentin des VBHK. Sie ist neu und motiviert, die kantonale Standespolitik mitzugestalten. Im Interview erzählt sie uns, was sie antreibt und wo sie den grössten Handlungsbedarf in unserem Gesundheitssystem sieht.
Du bist seit Ende März im Vorstand und Vizepräsidentin des VBHK. Was hat dich dazu bewogen, dich standespolitisch zu engagieren?
Ich habe realisiert, dass wichtige und unbedingt nötige Veränderungen nur politisch zu erreichen sind. Anstatt zu Jammern oder die Faust im Sack zu machen, möchte ich mithelfen und mitdenken.
Hand aufs Herz: Welcher politische Entscheid der letzten paar Jahre hat dich am meisten geärgert? Und welcher am meisten gefreut?
Am meisten genervt hat mich die Verschiebung der TARDOC-Einführung. Seit fast 5 Jahren verzögert der Bundesrat die Einführung eines neuen, modernen Tarifsystems für die Abrechnung von ambulanten ärztlichen Leistungen. Angesichts der Tatsache, dass der jetzige Tarif heillos veraltet ist, ist dieses Zaudern einfach unverständlich.
Gefreut hat mich hingegen der Ausbau des Praxisassistenz-Programms im Kanton Bern. Die politische Unterstützung der Hausarztmedizin im Grossen Rat, in diesen und anderen Fällen, macht mich zuversichtlich. Wichtig ist aber, dass konkrete Taten folgen, vor allem im Nachwuchsbereich, und dass die Verantwortlichen auch bereit sind, in den Nachwuchs zu investieren.
Wo siehst du die grössten Herausforderungen? Wo möchtest du politisch etwas bewegen?
Die Nachwuchsförderung ist eine grosse und zentrale Aufgabe der Haus- und Kinderarztmedizin. Wir sind schon heute viel zu wenige Haus- und Kinderärzt:innen, gleichzeitig gibt es immer mehr Patient:innen. Die Versorgungskrise ist kein Zukunftsgespenst mehr – sie ist bereits hier. Um das Gesundheitssystem wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, müssen wir alle Verantwortung übernehmen.
Es ist nicht die Aufgabe von Ärzt:innen, den Patient:innen die günstigste aller Behandlungen zu verschreiben. Wir Mediziner:innen verschreiben die Behandlung, die aus wissenschaftlicher Sicht und Erfahrung in der Praxis die besten Heilungschancen verspricht. Die Aufgabe der Politik ist es, sicherzustellen, dass wir das für faire und kostendeckende Tarife machen können. Denn die Hausarztmedizin löst über 90 % aller Gesundheitsprobleme selbständig und verursacht dabei nur 8 % der Gesamtkosten im Gesundheitswesen.
Kinderärztin ist ein Beruf, der immer wieder Veränderungen und neue Herausforderungen mit sich bringt. Was ist heute anders als noch vor 15 Jahren?
Die Zunahme von psychisch kranken Kindern und die Ängste der Eltern sind in der Praxis Alltag geworden. Was wir manchmal mit Schmunzeln lesen: «Helikopter-Eltern», «Rasenmäher-Eltern», «Tiger–Moms». Sie sind Realität und widerspiegeln die grosse Verunsicherung vieler Eltern in Erziehungsfragen.
Aufgrund des Fachkräftemangels in der Kinder- und Jugendpsychiatrie übernehmen wir Kinderärzt:innen die Rolle von Krisenmanager:innen und Therapeut:innen. Das mag zum Überbücken in Einzelfällen kein Problem sein, aber heute müssen wir, weil wir keine Therapie- und Abklärungsplätze finden, viel zu lange Aufgaben übernehmen, für die wir im Grund nicht die Richtigen sind.
Dank den grossen Fortschritten in der Medizin haben wir zudem deutlich mehr chronisch kranke Kinder mit komplexen Krankheitsbildern als früher. Das sind meist sehr aufwändige Patienten, wo viel Vernetzungsarbeit wichtig ist, welche wiederum nicht abgerechnet werden kann. Dank unseren Fortschritten diagnostizieren wir auch früher und besser. Ich nehme das Beispiel Autismusspektrumstörung, die wir heute früher diagnostizieren und bessere therapeutische Konzepte zur Verfügung haben
Morgen kommt die Fee und erfüllt dir einen einzigen Wunsch. Welcher wäre das in Bezug auf deine Arbeit in der Praxis oder deine politische Arbeit?
Ich würde mir wünschen, dass ich mich auf meine Arbeit als Kinderärztin konzentrieren kann und weniger Berichte für Versicherungen schreiben müsste. Heute muss ich zum Beispiel gegenüber einer Versicherung argumentieren, warum ein Kind mit Wahrnehmungsproblemen eine Ergotherapie braucht. Oder ich schreibe einen Brief und erkläre, warum ein Kind mit ADHS eine Medikation dringend nötig hat. Für diese administrativen Aufgaben wenden wir viel Zeit auf. Zeit, die uns für unsere Patient:innen fehlt. Hier braucht es wirklich ein Umdenken.