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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 3 Min.

Das Gesundheitswesen neu denken

Carte Blanche

Das Gesundheitswesen neu denken

Die Gesundheitskosten steigen stetig an. Die Gründe dafür sind vielfältig und komplex. Ökonomisch motivierte Lösungsansätze greifen zu kurz. Ein Marschhalt und ein umfassender gesellschaftlicher Diskurs über die Ziele des Gesundheitswesens sind unabdingbar.

Am 9. Juni 2024 hat das Schweizer Stimmvolk die Prämien- und Kostenbremse-Initiativen verworfen. Das war eine kluge Entscheidung, denn beide Ansätze hätten an der Entwicklung der Gesundheitskosten nichts geändert, wie alle bisherigen Massnahmen, die vorder- oder hintergründig auf Kostenziele ausgerichtet waren.

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Gesundheit und Krankheit sind keine normalen Handelsgüter. Sie folgen nicht den ökonomischen Regeln des freien Marktes von Angebot und Nachfrage oder geldpolitischen Theorien. Und es gibt keine Stellschraube, mit der man die Kosten des Gesundheitswesens steuern kann, wie beispielsweise den Leitzins, mit der die Nationalbank die Wirtschaft und Konjunktur steuert.

Als Patienten sind wir nicht einfach Kunden. Wenn wir krank werden, sind wir auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene persönlich betroffen. Wir erleben tiefe Verunsicherung und sind womöglich lebensbedrohlich gefährdet. Unser vorrangiges Ziel ist es dann, wieder gesund zu werden. Dabei achten wir nicht, wie beim Kauf eines neuen TV-Geräts, auf den besten Preis oder wählen ein einfacheres Modell aus, wenn das Gerät unserer Träume nicht in unser Budget passt.

Als Ärztinnen, Therapeuten, medizinische oder pflegerische Institutionen sind wir nicht einfach Händlerinnen und Verkäufer von medizinischen Produkten. Wir stehen mit unseren Patienten in einem therapeutischen Verhältnis und übernehmen - in ihrem Auftrag - gewissenhaft Mitverantwortung dafür, dass sie wieder gesund werden können.

Wo das nicht möglich ist, erarbeiten wir gemeinsam mit ihnen therapeutische Ziele, die ihnen ein möglichst gutes Leben mit der Krankheit ermöglichen. Dabei entscheiden wir uns mit allen Patientinnen in erster Linie für Massnahmen mit den für sie besten Erfolgsaussichten und richten uns nicht nach den Kosten.

Unser Gesundheitswesen ermöglicht allen Menschen in unserem Land den gleichen Zugang zum Gesundheitswesen und ein ihnen angemessenes medizinisches Vorgehen. Eine hohe sozialpolitische Errungenschaft, die niemand missen möchte – mit entsprechenden Kostenfolgen.

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Wie wir als Ärzte, Therapeutinnen und Patienten mit Gesundheit und Krankheit sowie dem Gesundheitswesen umgehen, unterliegt sehr komplexen Interaktionen. Dabei spielen, über die persönliche Ebene und wissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus, kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse eine bedeutende Rolle.

Wirksame und nachhaltige Lösungen für ein gesundes und auch in Zukunft tragbares Gesundheitssystem erfordern deshalb dringend einen Marschhalt und einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über die Ziele des Gesundheitswesens. 

Eine ergebnisoffene Auseinandersetzung, die über parteipolitische Interessen, Wahlperioden und Marketingstrategien hinausgeht. Eine Debatte, in die alle Fachgruppen und Bevölkerungsschichten, die Industrie, Gesunde und Kranke einbezogen werden. Begleitet und unterstützt durch eine geeignete und glaubwürdige Berichterstattung der Medien.

In diesem polit-philosophischen Diskurs geht es um die Klärung einer ganzen Reihe von fundamentalen Fragen, wie beispielsweise:

  • Was wollen wir mit dem Gesundheitswesen erreichen?
  • Welche Rolle spielt die Medizin für die Gesundheit der Bevölkerung?
  • Wie steht es um unsere individuelle, gesellschaftliche und fachlich-ärztliche Kompetenz im Umgang mit Ungewissheit und Grenzen, mit Fragen zu Nutzen, Risiken und Kosten?


Ein solcher gesamtgesellschaftlicher Diskurs braucht Zeit. Ihn nicht zu führen, ist verantwortungslos.

Ich denke, es liegt an uns Ärztinnen und Ärzten und an unseren standespolitischen Verantwortlichen, diesen gesellschaftspolitischen Diskurs einzufordern.

Bruno Kissling, Hausarzt im Ruhestand