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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 8 Min.

«Psychische Erkrankung heisst zuerst überleben und dann leben»

Psychische Erkrankung bei Jugendlichen

«Psychische Erkrankung heisst zuerst überleben und dann leben»

Die 16-jährige Gymnasiastin Luana hatte schwere psychische Probleme und war stationär in der Psychiatrie. Heute absolviert sie eine Berufslehre, ist zurück im Leben. Im Gespräch mit ihrer Coachin schildert sie ihren Weg und sagt, welche Rolle niederschwellige Integrationsmassnahmen und Coachingangebote wie «firstep» dabei spielten.

Wie haben Sie von der Sprechstunde Arbeitsintegration erfahren?  
Als der Austritt aus der Tagesklinik näherkam, wollten wir die Rückkehr in das Berufsleben planen. Zu diesem Zeitpunkt bin ich mit meiner Bezugsperson in die Sprechstunde Arbeitsintegration gekommen.

Wenn Sie so zurückdenken: Wo standen Sie damals und wo stehen Sie heute?  
Das ist eine ganz, ganz grosse Differenz. Ich glaube, mein Leben hat sich um 180 Grad gedreht. Beim Austritt war ich psychisch noch instabil. Die Familiensituation war schwierig, es war alles noch so ungewiss. Ich hatte keine Lehrstelle. Zwar habe ich ungefähr gewusst, was ich machen will, war aber verloren. Auch die Unterstützung durch die IV war noch nicht organisiert. Es war alles so unklar.

In der Sprechstunde Arbeitsintegration wurde eine Integrationsmassnahme empfohlen, welche ich dann im «firstep» gemacht habe. Dort konnte ich langsam wieder etwas Fuss fassen. Kurz vor Beginn der Massnahme habe ich die Zusage für die Lehrstelle erhalten. Das hat mir auch etwas Sicherheit gegeben.

Heute weiss ich genau, wo es hingeht. Ich weiss, was auf mich zukommt, mit der IV ist alles geklärt, mit meinen Eltern konnte einiges geklärt werden, mir geht es psychisch wieder recht gut, ich kann das Leben wieder geniessen und freue mich auf die Zukunft.

Wenn ich noch weiter zurückdenke – genau vor einem Jahr war ich noch stationär – hätte ich nie gedacht, dass ich ein Jahr später an diesem Punkt sein würde. Ich hatte keine Zukunftsperspektiven, ich war in einem tiefen Loch, alles war nur noch negativ. Heute habe ich ein Glück nach dem anderen, habe eine super WG gefunden, einen guten Arbeitsort, habe eine neue Psychiaterin, habe einen Coach, der mich durch die Lehre begleitet, der auch toll ist. Es hat sich alles um 180 Grad gedreht, das ist unvorstellbar.

Jugendliche für ein Berufs-Coaching anmelden – diese Wege gibt es

Über die IV

Dafür muss ein Verdacht auf eine medizinische Störung vorliegen wie ADHS oder Depression (oder anderes, auch zum Beispiel verknüpft mit einer Geburtsgebrechen-Nummer (404)), die zu Problemen bei der Ausbildung führen können.

Entweder kann die Person für eine Früherfassung angemeldet werden. Das können Ärzt:innen entweder selbst machen, die Erziehungsberechtigten müssen in diesem Fall nur informiert werden, oder über eine reguläre Anmeldung, dann müssen die Erziehungsberechtigten einverstanden sein und mitunterschreiben. Die nötigen Formulare findet man auf der Website der IV-Bern.

IV Bern, Anmeldeformulare

Über die UPD

Bei den Universitäten Psychiatrischen Diensten UPD gibt es eine Sprechstunde für Arbeitsintegration. Hier muss nicht von Anfang an, aber doch bald das Vorliegen einer gesundheitliche Beeinträchtigung dokumentiert und nachgewiesen werden.

Info Sprechstunde Arbeitsintegration UPD

Unterstützung beim BIZ

Das Angebot der BIZ Berufsberatungs- und Informationszentren ist niederschwellig, die Jugendlichen können sich selber melden via Kontaktformular auf der Website der entsprechenden Wohnregion.

BIZ: Infos für Jugendliche mit erhöhtem Unterstützungsbedarf

Bei grösseren Problemen gibt es beim BIZ auch das Case Management Berufsbildung CMBB. Voraussetzung für Zugang zu einem Case Management ist das Vorliegen einer «Mehrfachproblematik», wobei nicht näher definiert ist, was das heisst.

BIZ: Case Management

In der Schule

Die Jugendlichen können darauf aufmerksam gemacht werden, dass in den Schulen auch Unterstützung durch die Schulsozialarbeit angeboten wird. Dieses bietet in vielen Fällen auch einen sehr niederschwelligen Zugang zu weiteren Angeboten ausserhalb oder ergänzend zur Schule.

Auf privater Ebene

Es gibt auch die Möglichkeit, auf privater Initiative aktiv zu werden, so bieten etwa freischaffende Coaches Unterstützung an. Allerdings müssen die selber finanziert werden.

Was hat Ihnen in der Zeit in der UPD am meisten geholfen?  
Das ist schwierig zu sagen. Ich glaube jeder Schritt, den ich gegangen bin, hat irgendetwas eingeleitet, damit es mir bessergeht.

Zuerst half mir der stationäre Aufenthalt aus dem ganz tiefen Loch heraus, damit ich wieder angefangen habe zu leben.

Die Tagesklinik hat mir geholfen, mich und mein Schicksal besser kennenzulernen. Dort wurde ich eng begleitet, was mir sehr gut getan hat.

Die Sprechstunde Arbeitsintegration hat mir Halt gegeben nach dem Austritt. Ich wäre sonst verloren gewesen, ich wusste ja noch nicht, wie es beruflich weitergeht. Mit der IV zu kommunizieren, war nicht immer so einfach, da war ich sehr froh, dass ich unterstützt wurde und wir das gemeinsam anschauen konnten. Ich glaube, es ist sehr sinnvoll, beim Austritt jemanden zu haben, der hilft, eine Lehrstelle zu finden oder eine Integrationsmassnahme zu organisieren.

«firstep» hat mir vor allem geholfen, Stabilität zu erlangen, und es hat mir Alltagsstruktur gegeben.

Ich galt nicht mehr als die kranke Luana. Ich habe gemerkt, dass ich zwar Defizite habe, aber doch ins Berufsleben gehen kann. Während des stationären Aufenthalts und in der Tagesklinik war die Hoffnung noch klein, dass ich jemals wieder arbeiten kann. Aber durch «firstep» habe ich wieder Struktur erlangt. Täglich dorthin zu gehen, um die gleiche Uhrzeit zu starten und aufzuhören, hat geholfen.

Es hat, glaube ich, jede Station irgendetwas beigetragen, damit ich heute hier stehen kann.

Was würden Sie anderen Jugendlichen raten, welche sich in einer ähnlichen Situation befinden? Oder auch Eltern?  
Ich glaube, dass jeder etwas anderes braucht, darum ist es schwierig diese Frage zu beantworten. Was ich aber wichtig finde, ist, den Willen nicht zu verlieren. Dran zu bleiben egal wie dunkel und negativ das Leben aussieht. Es gibt am anderen Ende des Tunnels immer ein Licht, auch wenn es im Moment nicht danach aussieht.

Was ich jedem empfehlen kann, ist, sich Hilfe zu suchen. Sofort. Zum Arzt gehen, eine Psychotherapie machen, oder halt auch einen Aufenthalt, wenn es nötig ist. Das ist die einzige Lösung, um wieder aus dem Loch hinaus zu kommen. Die richtigen Menschen finden und sich nicht schämen, Hilfe anzunehmen. Ich hatte lange selber Mühe, Unterstützung zu akzeptieren, aber irgendwann ging’s nicht mehr anders. Da wusste ich: Ich muss auf eine Station, ich kann daheim nicht mehr bleiben. Auch wenn es schwierig ist. Ich weiss noch, als ich stationär war - es flossen jeden Tag Tränen und ich dachte, es hört nie mehr auf, ich werde nie mehr gesund. Aber ich habe nicht aufgegeben und habe weitergekämpft.

Ich glaube, ohne meinen starken Willen hätte ich das nicht geschafft, der ist in mir und tritt mir in den Hintern. Das Schicksal ist auf mich zugekommen, und ich lerne nun immer mehr, es zu akzeptieren. Das ist aber das Schwierigste.

Ich hatte das Ziel vor Augen, zurück zu der glücklichen und strahlenden Luana zu finden. Das hat geholfen.

Was die Eltern betrifft, wäre es schön, wenn sie die Kinder ernstnehmen und auch Hilfe organisieren würden. Nicht sagen, du bist faul oder so.

Haben Sie das Gefühl, Sie haben nun einen Nachteil durch diese Zeit?  
Nein, ich würde sagen eher das Gegenteil. Klar, man erlebt nicht nur Schönes in einer Psychiatrie, logischerweise. Aber dadurch, dass ich nun so viel Lebenserfahrung habe, obwohl ich erst 18 bin, dass ich durch so harte Zeiten gegangen bin, so viel erlebt habe, so viel kämpfen musste, weiss ich, was Leben heisst. Und was es heisst, dass es nicht immer einfach

ist. Nicht so wie andere, die einfach einen geraden Weg haben und nie etwas dafür tun müssen. Wenn man eine psychische Erkrankung hat, heisst das, zuerst überleben und dann leben.

Trotzdem haben wir in unserer Gesellschaft das Problem, dass psychische Erkrankungen zu wenig anerkannt werden. Man redet weniger darüber und schämt sich. Man sieht das von aussen halt nicht wie ein gebrochenes Bein. Das wurde mir auch immer wieder gesagt, dass man mir das nicht ansehen kann. Ich finde wichtig, dass man mehr darüber redet, und dass man sagt, wenn es einem schlecht geht und sich Hilfe holt.

Weiss Ihr Arbeitgeber von Ihrer Erkrankung?  
Ich war sehr unsicher, was das angeht. Ich habe in meinem Lebenslauf ja eine Lücke, und es ist halt schwierig zu entscheiden, was man da sagt. Ich hatte auch Angst vorverurteilt zu werden und wusste nicht ob und wie ich das kommunizieren sollte. Dann habe ich das mit Frau Jakob besprochen und vorbereitet. Schliesslich habe ich meinem Chef gesagt, dass ich durch eine schwere Zeit gegangen bin, dass ich psychische Probleme hatte und jetzt wieder auf einem guten Weg und immer noch dran bin. Was ich genau habe, das weiss er nicht.

In der Zukunft werde ich das mit dem Job Coach der IV anschauen. Wir werden zusammensitzen und das genauer mit dem Arbeitgeber besprechen.

Ich glaube, es ist erleichternd für mich und auch für andere Lernende, wenn der Arbeitgeber Bescheid weiss. Zum Beispiel, wenn man mal fehlt, ist klar, dass man nicht schwänzt, sondern einen Rückschlag hat. Das erleichtert.

Autorin: Regula Jakob, Psychologin und Job Coach, ehemals Sprechstunde Arbeitsintegration

www.jakob-coaching.ch