Carte Blanche
Auf unsere Grenzen
Die ärztliche Grundversorgung bildet ein Netz für die Bevölkerung, in dem so manches aufgefangen wird. Doch was passiert, wenn dieses Netz reisst? Der Druck, den die Haus- und Kinderärzt:innen verspüren, ist immens. Viele steigen aus, nach der Pensionierung bleiben Praxen leer. Was muss sich verändern, damit das Netz hält? Eine Hausärztin sucht Antworten.
«In all den Jahren der Arbeit mit euch Hausärzt:innen ist mir erst so richtig klar geworden», sagte der Professor für Psychologie, «welch wichtige Arbeit ihr macht. Ihr bildet ein Netz für die Bevölkerung, in dem so manches aufgefangen wird.»
Mir wurde ganz eng. Wir sassen beim Nachtessen an einer Fortbildung für lösungsorientierte Beratung, und ich wusste genau, wovon er sprach. Die ärztliche Grundversorgung bildet ein Netz, an der Basis. Wichtige Arbeit. Es hätte sich gut anfühlen können. Aber es fühlte sich eher an wie etwas Bedrohliches, zu gross, um jemals bewältigt werden zu können. Und es fühlte sich irgendwie einsam an.
Ich bin Hausärztin in Burgdorf. Die Region leidet an einem Mangel in der Grundversorgung. Fünf Ärzt:innen wurden pensioniert und fanden keine Nachfolge.
Kürzlich erschien ein Artikel in der Presse. Darin wurde der Alltag einer Hausärztin beschrieben, der von einem ständigen «mach mehr, schneller» geprägt ist und ein Gefühl hinterlässt, «ich mache nicht genug».
Ein Netz, das so manches auffängt. Hält es noch?
Meine Nachbarin brachte mir den Artikel. Ich lese ihn schnell, nach dem Bringen zum Kindergarten, Honigbrot und in die Praxis eilen. Ich fühle ein Ziehen im Brustkorb, wenn ich vom Alltag meiner Kollegin lese. Und wieder diese Enge. Steht es wirklich so schlimm um uns Hausärzt:innen? Wie fühlt es sich von innen an? Wie erlebe ich das?
Als Ärzt:innen werden wir von Anfang an zu einer «Mehr»-Kultur erzogen. Wir machen viel, aber gefragt wäre noch mehr. Das Niveau, die Qualität von dem, was wir bewältigen, ist hoch. Wir feiern das auch ein bisschen. Macht uns besonders, im Vergleich zu «Kreti und Pleti». Aber wie geht es uns dabei, wirklich?
Grenzen setzen
Wie es mir als Assistenzärztin ging, könnt ihr in meinem Buch mit Bruno Kissling nachlesen. In der Praxis, in der ich arbeite, kann ich mir die Grenzen recht gut abstecken, zum Glück. Wir nehmen auch keine neuen Patient:innen auf. Ich konsultiere im 30-Minutentakt und habe pro Tag zwei Stunden Bürozeit eingeplant – den erwarteten Umsatz erreiche ich damit allerdings nicht.
Es ist immer noch streng, aber meistens machbar. Die Agenda ist natürlich ständig voll. Den MPA wird es manchmal zu viel, wenn sie immer wieder sagen müssen: «Die nächsten freien Termine sind erst in zwei Wochen». Ich bringe Schokolade mit und schreibe drauf: «Danke fürs Hochhalten unserer Grenzen! Damit wir auch längerfristig die Arbeit gesund und mit Freude machen können.»
«Change is coming…»
Es führt kein Weg dran vorbei. Wenn sie könnte, hätte uns die Politik schon lange gerettet. Wir müssen das selber tun. «Genug» sagen, laut, deutlich. «Bis hier – und nicht weiter.» Für unsere persönlichen Grenzen einstehen. Weil «Mehr» ist beim besten Willen nicht mehr möglich, «Mehr» ist auch Teil der alten Geschichte, der Geschichte vom ewigen Fortschritt und Wachstum, der Geschichte, die uns Glück verspricht.
Für mich ist klar: Was hier bei uns im Gesundheitswesen passiert, ist Teil eines grösseren Veränderungsprozesses. Der Wandel ist überall im Gange, nicht nur in diesem System. «Change is coming, whether you like it or not», sagt Greta Thunberg.
Wenn wir wollen, dass der «Change» kommt, den wir wollen, müssen wir bei uns anfangen. Was ist meine Aufgabe? Wofür bin ich verantwortlich? Was möchte ich wirklich tun? Ich bin verantwortlich für mich selbst, und dafür, wie ich meine Arbeit mache. Wenn ich ständig über meine Grenzen gehe und den Mangel in der Grundversorgung persönlich auszugleichen versuche, brenne ich nicht nur aus, ich unterstütze das alte System.
Zu sagen «Genug», das ist revolutionär, ein Akt der Wahrheit und der Liebe. Das und nichts weniger ist in dieser Zeit von uns gefragt.