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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 5 Min.

«Paradigmenwechsel»: Integrierte Versorgung ohne Hausärzt:innen?

Réseau de l'Arc

«Paradigmenwechsel»: Integrierte Versorgung ohne Hausärzt:innen?

Das mediale Echo war beträchtlich, als die Gesundheitsdirektion mit Regierungsrat Pierre Alain Schnegg Ende Oktober nichts weniger versprach als den Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem: Ein neues Modell der integrierten Versorgung im Jurabogen unter dem gemeinsamen Dach einer Versicherung, des Kantons und einer Schweizer Privatklinikgruppe. Wir wagen eine erste Auslegeordnung.

Ab 1. Januar 2024 will die Visana ein regional begrenztes neues Grundversicherungsprodukt auf den Markt bringen, das die Initiator:innen einigermassen unbescheiden als «Paradigmenwechsel im Schweizer Gesundheitswesen» anpreisen. Und der geht so: Der Krankenversicherer Visana beteiligt sich an der Hôpital du Jura Bernois SA des Kantons Bern, zusammen mit der Privatklinikgruppe Swiss Medical Network begründen die drei Partner unter dem Namen Réseau de l'Arc SA eine neue integrierte Versorgungsorganisation für die Region des Jurabogens. 

Angestrebt wird eine «Alternative zum traditionellen Krankenversicherungssystem», deren Kernstück die Pauschalfinanzierung pro Mitglied ist, das heisst pro Versicherten. Eine Pauschale pro Versicherten ersetzt die übliche Einzelleistungsvergütung, es erfolgt also ein Wechsel auf ein Finanzierungsmodell mit so genannter «full capitation». Dass die Leistungserbringer in so einem Modell Budget(mit)verantwortung übernehmen und Zielvorgaben erreichen müssen, ist zu erwarten. 

Kosten, Kunden, Kapital

Das alles steht in der verheissungsvollen Medienmitteilung des Kantons Bern, die auf und zwischen den Zeilen überdies verrät, von welchem Geist die angekündigten Pläne ausserdem geprägt sind. Im Zentrum stehe die «Gesundheiterhaltung» von «Kundinnen und Kunden», Hauptaufgabe der neuen Organisation sei es, «das Gesundheitskapital ihrer Mitglieder zu verwalten». 

Man strebe damit «eine Abkehr von den heutigen Anreizen an möglichst vielen und teuren Behandlungen» an sowie «eine Korrektur der derzeitigen Verzerrungen des Gesundheitssystems», die verantwortlich seien für «Kostenexplosion und Prämienerhöhungen». Da stecken einige beliebte Schlagworte mit drin, nicht ganz falsch, aber doch etwas gar simpel angesichts der komplexen gesundheitspolitischen Realität. 

Vieles scheint noch offen

Entstehen soll nun also ein vollständig integriertes Gesundheitssystem, das mit den beiden Spitalstandorten Moutier und Saint-Imier und weiteren Diensten den Bewohner:innen im Jurabogen alle medizinischen Leistungen – von der Prävention über die Grundversorgung und Spitalleistungen bis zur Alterspflege – in einem Krankenversicherungsprodukt anbieten kann. 

Bei all den Vorhaben orientieren sich die Initiator:innen am Vorbild der Kaiser Permanente aus den USA. Wem das alles zu neblig vorkommt, kann sich trösten: Mehr als eine aktienrechtliche Regelung von neuen Beteiligungsverhältnissen und einigen Absichtserklärungen ist hinter der Réseau de l'Arc SA derzeit noch nicht zu erkennen, eine Genehmigung durch das BAG steht ebenfalls noch aus. Wir dürfen also gespannt sein, was am 1. Januar 2024 vom angekündigten Paradigmenwechsel tatsächlich in der lebensweltlichen Realität des Jurabogens ankommen wird.

Dynamik tut dem System gut – aber welche?

Dass es neue Modelle braucht, innovative, inspirierte und inspirierende, das steht angesichts der vielfältigen Herausforderungen, vor denen das Schweizer Gesundheitssystem steht, ausser Frage. Und dass sich mutige Pionier:innen daran wagen, über solche Modelle nicht nur nachzudenken und zu reden, das ist gut und wertzuschätzen. Dynamik tut diesem System wahrlich gut. Trotzdem werfen die präsentierten Pläne auch Fragen auf. 

Ein grundsätzlicher Aspekt, den wir weder vertiefen können noch wollen, betrifft die betriebswirtschaftliche Denke, mit der operiert wird. Selbstverständlich, eine effiziente und effektive Ressourcenallokation ist im Gesundheitswesen wichtig und richtig. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass das zentrale Gut, um das es hier geht, das wichtigste Gut ist, das wir alle haben, und kein gewöhnliches ist: Gesundheit. 

Gesundheit von Menschen notabene, die wir Haus- und Kinderärzt:innen auch als solche sehen – und nicht als Kund:innen. Wer zu sehr betriebswirtschaftlich denkt und spricht, läuft Gefahr, Menschen mit Kund:innen zu verwechseln. Das bringt uns zu einem anderen Aspekt, zur Rolle der Versicherungen nämlich, bzw. in diesem Fall: der Versicherung. 

Ist es wirklich sinnvoll und nachhaltig, dass die öffentliche Hand, der Kanton Bern (selbst Eigner von öffentlichen Spitälern), einer einzigen privatwirtschaftlichen Versicherung und einer Privatklinikgruppe in einer Region so viel Gewicht gibt, wie das in diesem System angedacht ist? Was ist mit den Versicherten von anderen Kassen? Was ist mit anderen Leistungserbringern ausserhalb des angedachten Netzes? 

Paradigmenwechsel ohne Hausärzt:innen?

Womit wir beim letzten Aspekt sind, demjenigen, der bei uns für grosse Augen und einiges Erstaunen sorgte: Wie um alles in der Welt kann es sein, dass ein Projekt zur integrierten Versorgung in einer Region angedacht und vorangetrieben wird, ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren über all die Haus- und Kinderärzt:innen, die dort ein zentraler Pfeiler der ärztlichen Grundversorgung sind und auch künftig sein sollten? Die für viele Menschen und Familien erste Ansprechpartner:innen sind, die vorbeugen, therapieren, begleiten, koordinieren, und das mit hoher Effizienz und zu einem tiefen Tarif?

Es ist mittlerweile zum «common sense» geworden, aber wir wiederholen es gerne: Gesundheitssysteme, die auf einer starken Grundversorgung aufbauen, sind die effizientesten und kostengünstigsten. Das gilt vor allem für integrierte Versorgungssysteme, die notabene schon in verschiedenen Ansätzen und Ausformungen existieren und die man weiterentwickeln könnte.

Wer nichts weniger vorhat als den Paradigmenwechsel im Schweizer Gesundheitssystem tut wahrscheinlich gut daran, neben einigen Aktionären auch die wichtigsten paar Akteure mit ins Boot zu holen, und zwar möglichst früh.