Medikamentenengpass
Hustentäfeli kosten mehr als Antibiotika
Dem Pharmaland Schweiz gehen die Medikamente aus. Krisen, Kriege und steigende Preise haben die Situation verschärft. Das Problem ist längst bekannt, doch massgebende Akteure vom Bundesrat über die Branche bis zu Zulieferern haben lange zugewartet. Zu lange. Jetzt sind die Haus- und Kinderärzt:innen gefordert. Immer öfter müssen sie zusammen mit ihren Patient:innen nach alternativen Medikamenten suchen. Für Kinder und chronisch kranke Menschen ein Spiessrutenlauf.
Protamin, Alteplase, Suxamethonium, Amoxicillin, Ibuprofen, Paracetamol - das sind nur ein paar Beispiele für Wirkstoffe, die auf dem Schweizer Markt nicht oder nur sehr beschränkt erhältlich sind. Die Liste mit fehlenden Medikamenten ist lang. Lange ist auch bekannt, dass in der Schweiz ein Versorgungsproblem bei den Arzneimitteln besteht.
Die Situation hat sich in den letzten Monaten aber deutlich verschärft. Hatten in den letzten Jahren vor allem Spitäler einen Engpass bei der Medikamentenversorgung, gehen heute Patient:innen von Apotheke zu Apotheke und erhalten immer wieder dieselbe Antwort: «Tut mir leid, das haben wir zurzeit nicht auf Lager, und es ist auch keine Lieferfrist bekannt». Wie konnte es im Land mit Pharmariesen wie Roche und Novartis so weit kommen? Die Gründe sind vielschichtig.
Immer häufiger Reserven aus dem Pflichtlager
Rund 1’000 Medikamente fehlen derzeit in der Schweiz. Die Situation ist so prekär, dass der Bund letztes Jahr 120 Mal Arzneimittel aus dem sogenannten Pflichtlager entnehmen musste. Das ist die erste Eskalationsstufe. Diese tritt ein, wenn Medikamente nicht mehr durch andere ersetzt werden können.
Die zweite Eskalationsstufe herrscht seit dem 1. Februar: Jetzt kann nicht mehr sichergestellt werden, dass genügend Medikamente zur Verfügung stehen. Erstaunlich und fragwürdig, dass man nicht reagiert hat. Ein Blick zurück zeigt, dass der Engpass bei den Medikamenten seit Jahren kritisch ist: 2018 mussten in 17 Fällen die Pflichtlager angezapft werden, 2019 in 57 Fällen und 2022 waren es mit 120 Fällen bereits mehr als doppelt so viele.
Krieg und Krisen als Problemkatalysatoren
Wo werden die meisten Wirkstoffe hergestellt? Nicht etwa im Pharmaland Schweiz, sondern in China und Indien. Sie sind sozusagen die Apotheken der Welt. Und das ist zunehmend ein Problem. Kann oder will eines der Länder nicht mehr liefern oder kommt es an zentralen Produktionsstandorten zu Problemen und Unterbrüchen, schaut die Schweiz in die Röhre.
Was solche Abhängigkeiten bedeuten können, haben wir diesen Winter alle am Beispiel von Russland und der Energiekrise miterlebt. Chinas strenger Lockdown in der Pandemie hat die Lieferketten unterbrochen, und nachdem China den Lockdown löste, stiegen die Covid-Fälle rasant an, mit Einfluss auf die Produktion. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat den Engpass bei der Medikamentenversorgung sprichwörtlich befeuert. Die Ukraine war vor dem Kriegsausbruch ein wichtiger Produktionsstandort für Hilfsstoffe wie Verpackungen und Glasampullen.
Preisentwicklung als Problem?
Hustenbonbons oder Antibiotika? Diese Frage könnten Pharmakonzerne in Zukunft womöglich ernsthaft diskutieren. Grund: Schmerzmittel wie Ibuprofen, Paracetamol oder diverse Antibiotika haben keinen Patentschutz mehr – der Preis sinkt und mit ihm auch die Rendite. Gerade in der Schweiz, einem im Vergleich sehr kleinen Markt, wo die Zulassung von Medikamenten mitunter aufwendig und kompliziert ist, hat das zur Folge, dass die Zahl der Anbieter teilweise nur noch sehr gering ist. Mit entsprechenden Risiken, sollte es bei ihnen zu Schwierigkeiten kommen.
Ausserdem habe laut Generika-Hersteller der Preisdruck dazu geführt, dass man mit der Medikamentenherstellung kaum mehr Profit machen kann. Eine Packung Hustenbonbons kostet teilweise mehr als eine Packung Antibiotika. Das führt dazu, dass viele die Produktion von Arzneimittel gestoppt haben bzw. die Kapazitäten für rentablere Produkte nutzen.
Haus- und Kinderärzt:innen gefordert
Stoppen können die Mediziner:innen die Viren und Krankheiten nicht. Sie sind es, die gemeinsam mit ihren Patient:innen nach Lösungen suchen müssen und im schlimmsten Fall die schlechte Nachricht überliefern müssen, dass es momentan nur ein alternatives Medikament gibt, welches unter Umständen mit Nebenwirkungen verbunden ist. Bei Kindern sind die Ausweichmöglichkeiten sehr eingeschränkt, weil diese keine Tabletten schlucken können und auf Sirup oder Zäpfchen angewiesen sind.
Problematische Lage
Wie weiter? Der Bundesrat stuft die Lage als problematisch ein. Eine Expertengruppe prüft zurzeit mögliche Sofortmassnahmen. Was jetzt schon klar ist: Das Monitoring der Versorgungslage der Arzneimittel soll verbessert werden. Was nicht klar ist: Wie das genau umgesetzt werden soll.
Es kursieren Gerüchte, dass die Kantone und die Hersteller die Lager ausbauen möchten oder dass der Bund als Käufer von Medikamenten agiert. Diese unkonkreten Ideen lassen angesichts des aktuellen Arzneimittelengpasses zweifeln, ob der Bundesrat den Ernst der Lage wirklich erkannt hat.