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«Viele Patient:innen verstehen nicht, wie das Gesundheitssystem funktioniert»
Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, war Iryna Biriuchenko bereits in der Schweiz. Sie arbeitet als Assistenzärztin bei Medbase in Bern. Warum Patient:innen in der Ukraine häufig mit ihrer Selbstdiagnose zum Arzt gehen und entsprechend behandelt werden möchten und wie sie zwischen Schweizer Ärztinnen und ukrainischen Patienten vermittelt, erzählt die 36-Jährige im Interview.
Was hat Sie am Schweizer Gesundheitssystem am meisten überrascht, als Sie in die Schweiz gekommen sind?
Zwei Dinge haben mich überrascht: Erstens die gute Beziehung zwischen den Ärztinnen und ihren Patienten. Und zweitens, dass man sehr lange auf einen Termin bei einem Spezialisten warten muss.
Hausärzt:innen spielen im Schweizer Gesundheitswesen eine wichtige Rolle. Wie ist das im ukrainischen Gesundheitssystem?
Das ukrainische Gesundheitssystem befindet sich zurzeit in einer großen Reformphase. 2014 begann die Entwicklung des Konzepts der Hausarztmedizin, wie man es hier in der Schweiz kennt. Es wurde 2018 in die Praxis umgesetzt. Die Ukrainer:innen müssen noch lernen, wie dieses neue Modell funktioniert. Vor der Reform funktionierte die primäre Versorgung über Hausärzt:innen nicht richtig. Die Patient:innen konnten sich direkt bei Spezialist:innen anmelden. Ausserdem stellten Patient:innen sich zum Teil selbständig Diagnosen, in dem sie im Internet recherchierten oder sich mit Verwandten mit ähnlichen Symptomen austauschten. Nach ihrer Selbstdiagnose erstellten sie einen Diagnoseplan und machten einen Vorschlag für die Behandlung.
Und woher nehmen die Patient:innen das Wissen dafür?
Das ist möglich, weil es in der Ukraine viele private Labors und Diagnosezentren gibt, die keine ärztliche Überweisung benötigten – ausserdem gibt es keine Krankenkassen. Hinzu kommt, dass die meisten Medikamente rezeptfrei sind, auch Antibiotika. Oft musste bei der ärztlichen Konsultation der Patientin erklärt werden, warum die selbst erstellte Diagnose falsch und die Diagnostik nutzlos ist. Das führt dazu, dass viele Patient:innen immer noch nicht verstehen, dass der Arzt und nicht sie über den Umfang der diagnostischen Massnahmen und die Behandlung entscheiden. Soweit ich weiss, sind in der Schweiz Hausärzt:innen ebenfalls mit diesem Problem konfrontiert, wenn sie ukrainische Patient:innen behandeln.
Ganz allgemein: Wie unterscheidet sich das Schweizer Gesundheitswesen vom Ukrainischen?
Der Hauptunterschied besteht darin, dass es keine obligatorische Krankenversicherung gibt. Fast alle Behandlungskosten müssen vom Staat übernommen werden. Die wichtigsten Aspekte der ukrainischen medizinischen Versorgung sind folgende:
- Es gibt ein staatlich garantiertes medizinisches Versorgungspaket. Alle Leistungen, die darin enthalten sind, werden vollständig vom Staat bezahlt. Je nach Bedürfnissen der Bevölkerung, den Prioritäten der staatlichen Politik und der Höhe der verfügbaren Mittel kann es jedes Jahr angepasst werden.
- Der nationale Gesundheitsdienst ist der einzig nationale Käufer von medizinischen Dienstleistungen und verwaltet das Haushaltsbudget. Er schliesst die Verträge mit medizinischen Institutionen (privat und staatlich) ab, um die Kosten für die tatsächlich erbrachten medizinischen Leistungen zu bezahlen.
- «Das Geld folgt dem Patienten»: Der Staat weist die Gelder nicht entsprechend dem Unterhaltsbudget einer medizinischen Einrichtung zu, sondern die medizinischen Institutionen erhalten die Zahlung auf der Grundlage der Ergebnisse ihrer Arbeit.
- «Erschwingliche Medikamente»: Patient:innen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-II-Diabetes oder Asthma haben die Möglichkeit, die Medikamente kostenlos oder gegen eine geringe Zuzahlung zu erhalten. Für viele Patient:innen ist dieses Programm die einzige Möglichkeit, eine Behandlung zu erhalten.
Iryna Biriuchenko kam vor drei Jahren in die Schweiz. Sie studierte in Kiew Medizin und promovierte 2015. Iryna Biriuchenko spricht fünf Sprachen und arbeitet als Assistenzärztin bei Medbase. Dort kümmert sich die 36-Jährige unter fachärztlicher Supervision momentan vor allem um ukrainische und russische Patient:innen. Iryna Biriuchenko lebt mit ihrer Familie in Bern.
Was fehlt dem ukrainischen Gesundheitssystem momentan am meisten?
Nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums wurden in der Ukraine seit Beginn des Krieges 906 Einrichtungen des Gesundheitswesens beschädigt, 123 davon wurden vollständig zerstört. Leider haben die Ukrainer:innen seit dem 24. Februar nur noch eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung. Kürzlich hat der ukrainische Gesundheitsminister Viktor Liashko auf die wahrscheinlichen Folgen des Krieges in der Ukraine hingewiesen, so etwa eine mögliche Zunahme von Krebserkrankungen im fortgeschrittenen Stadium, schwere und tödliche Komplikationen von Bluthochdruck in jungen Jahren und kriegsbedingte psychische Probleme.
Sie waren bereits in der Schweiz, als der Krieg in der Ukraine begann. Wie hat der Krieg ihr Leben hier verändert?
Wenn der Krieg in vollem Umfang zu ihnen und ihren Angehörigen kommt, müssen alle Prioritäten neu gesetzt werden. Hinzu kommen die täglichen Sorgen für diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind. Viele meiner Schul- und Studienfreund:innen sind jetzt an der Front, obwohl sie nie von einer militärischen Karriere geträumt haben. Einige von ihnen scheinen sich in Kriegsgefangenschaft zu befinden. Und man kann nichts tun, um ihnen zu helfen. Man kann nur für sie beten, denn man weiss, dass Russland sich nicht an die Regeln hält, die das Genfer Abkommen für die Behandlung von Kriegsgefangenen vorsieht. Auch der Gedanke, in die Ukraine zurückzukehren, lässt mich nicht los. Wenn es soweit ist, habe ich vielleicht kein Haus und meine Kinder keinen Spielplatz mehr, sondern nur noch Erdlöcher oder einen Friedhof, der während der Besatzung angelegt wurde. Ausserdem wurde ein schöner Park, in dem wir früher unsere Freizeit verbrachten, zu einem Minenfeld. Wir aber wollen Widerstand leisten, damit unsere Kinder die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wo sie studieren, leben und ihre Zukunft aufbauen wollen. Deshalb warte ich ungeduldig darauf, in eine freie und friedliche Ukraine zurückkehren zu können.
Was für eine Rolle spielte es, dass Sie Ärztin waren, als der Krieg ausbrach?
Ich konnte über medizinische und schützende Ausrüstung beraten, die vor allem an den kritischen Stellen benötigt wurde. Aus der Ferne leistete ich medizinische und psychologische Unterstützung für diejenigen, die sie benötigten.
Was ist Ihre Rolle als ukrainische Ärztin in der Schweiz?
Ich bin hauptsächlich für die medizinische Versorgung zuständig. Daneben fungiere ich auch als Vermittlerin zwischen ukrainischen Patient:innen und dem Schweizer Gesundheitswesen. In den meisten Fällen verstehen die Ukrainer:innen nicht, wie die Zusammenarbeit zwischen den vier Hauptakteuren (Patient:innen, Ärzt:innen, Versicherungen und politische Entscheidungsträger) funktioniert.
Behandeln Sie ausschliesslich ukrainische Patient:innen?
Nein, nicht nur. Aber viele meiner Patient:innen stammen aus der Ukraine.
Mit welchen Problemen und Fragen kommen Patient:innen zu Ihnen?
Wenn wir über gesundheitliche Probleme sprechen, handelt es sich meistens um kriegsbedingten Stress, die Verschlimmerung chronischer Krankheiten und fehlende Medikamente. Die grösste Schwierigkeit für die meisten Patient:innen ist jedoch, dass sie ihre Probleme aufgrund der Sprachbarriere den Schweizer Ärzt:innen nicht erklären können. Leider lösen die modernen elektronischen Geräte das Problem nicht, sondern machen es manchmal sogar schlimmer. Es kommt zu Missverständnissen, was zu einer Verringerung der Compliance führen kann. Ausserdem verstehen viele Patient:innen nicht, wie das Gesundheitssystem funktioniert und sehen alles durch die Brille ihrer Erfahrungen in der Ukraine.
Was würden Sie gerne aus dem ukrainischen Gesundheitssystem in die Schweiz importieren?
Ich würde nichts importieren. Das Schweizer Gesundheitswesen funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk.
Das Gespräch führte Cynthia Ringgenberg.