Interview
«Die Stärkung der Grundversorgung wäre eine wesentliche Massnahme, um das Kostenwachstum zu bremsen»
Seit drei Monaten ist Christoph Zimmerli Präsident der Berner Gesundheits- und Sozialkommission. Unsere Co-Präsidentin Corinne Sydler und unser Co-Präsident Stefan Roth wollten vom 51-jährigen FDPler unter anderem wissen, was er gegen den Fachkräftemangel in der Haus- und Kinderarztmedizin unternimmt.
Herzliche Gratulation zur Wahl als Präsident der grossrätlichen GSOK. Sind Sie schon angekommen im neuen Amt? Es warten immerhin ein paar grosse Herausforderungen.
Ich bin beruflich seit Jahrzehnten mit den Themen der GSOK befasst und war schon zuvor Mitglied dieser Kommission. Die neue Aufgabe umfasst die Vorbereitung und Leitung der Sitzungen, zusammen mit der Vizepräsidentin und dem Sekretariat. Thematisch stehen in nächster Zeit in der Tat gewichtige Geschäfte an.
Früher hatten alle ihren Hausarzt, oft über Generationen und den gleichen für die ganze Familie. Heute ist das viel weniger der Fall. Was glauben Sie, warum ist das so?
Das hat mit den gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. Auf dem Land ist dieses altbewährte Modell sicher noch verbreiteter. In der Stadt und in der Agglomeration hingegen nehmen traditionelle Familienbindungen ab. Zudem ist heute das Leistungsangebot viel grösser, und die Möglichkeiten, sich über Angebote zu informieren, sind vielfältiger. Folglich wählt jede Person das aus, das ihr am besten entspricht.
Sie selber, haben Sie noch eine Hausärztin oder einen Hausarzt?
Ja, selbstverständlich. Ich hatte aber bisher das Glück, dass ich sehr selten einen Arzt aufsuchen musste.
Sie sind Vater von vier Kindern. Was für eine Rolle spielt der Kinderarzt in Ihrem Familienalltag?
Wir konsultieren für unsere drei noch minderjährigen Kinder bei Bedarf eine lokale Kinderärztin. Sie ist über die Jahre zur Vertrauensperson geworden.
Im Gesundheitswesen ist der Fachkräftemangel ein grosses Thema. Bei den Hausärzten, den Kinderärztinnen, in der Pflege und auch in der Psychiatrie wird er immer offensichtlicher. Überall fehlen Leute. Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen dafür?
Die Ursachen sind vielfältig. Attraktivere Alternativen, zum Beispiel Spezialärzte in Bereichen, in denen sie massiv mehr verdienen können, hohe Arbeitslast und Nachtdienste oder vergleichsweise tiefe Entlöhnung. Auch die abnehmende gesellschaftliche Anerkennung spielt eine Rolle, fehlende Nachfolgen, überbordende Administration oder schwierige Patienten, um nur einige Ursachen zu erwähnen. Dazu kommt die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft und die reduzierte Zuwanderung von Fachleuten aus dem Ausland.
Wo sehen Sie als Kantonspolitiker die wichtigsten politischen Hebel, um im Kanton Bern etwas gegen den Mangel an Haus- und Kinderärzt:innen zu tun? Immerhin ist der Kanton ja für die Gesundheitsversorgung verantwortlich.
Der Kanton Bern ist sich der Problematik bewusst und ist auch nicht untätig geblieben. So hat der Grosse Rat in der Sommersession 2022 das Programm «Praxisassistenz» ausgebaut mit dem Ziel, die Weiterbildung angehender Grundversorger:innen zu fördern und den Nachwuchs dorthin zu rekrutieren, wo Mangel herrscht. Im Vordergrund stehen der Ausbau der Studien- und Weiterbildungsplätze sowie die Schaffung zusätzlicher Praxisassistenzstellen für Haus- und Kinderärzt:innen. Zudem können wir bei der Entschädigung für Weiterbildungsstellen für Haus- und Kinderärzt:innen an den Spitälern ansetzen und die (Privat-) Spitäler stärker in deren Aus- und Weiterbildung einbeziehen.
Die GSOK ist ein wichtiger Player der kantonalen Gesundheitspolitik. Wo sehen Sie hier Ihre Rolle als Präsident? Welche Ziele haben Sie sich gesetzt?
Ich habe den Anspruch, dass die Gesetzesvorlagen und weiteren Geschäfte gründlich und sachkundig, aber gleichzeitig auch speditiv vorbereitet und fristgerecht dem Grossen Rat zum Entscheid unterbreitet werden. Wichtig ist mir, dass wir in der Kommission sachgerechte Lösungen erarbeiten und nachvollziehbare Entscheide fällen und diese transparent kommunizieren. Was theoretisch klingt, heisst in der Praxis, dass wir als Sachkommission politische Verantwortung übernehmen müssen.
Der ärztliche Notfalldienst ist ein Problem. Vor allem auf dem Land ist die Dienstbelastung teilweise so hoch, dass wir kaum noch Kolleginnen und Kollegen finden, die sich dort als Hausärztin oder Kinderarzt niederlassen wollen. Für die Menschen ist das nicht einfach, für die Gemeinden ein spürbarer Standortnachteil. Was können Sie den Menschen dort und den betroffenen Gemeinden in Aussicht ausstellen?
Ich bin Präsident einer grossrätlichen Kommission und nicht Regierungsrat. Deshalb kann ich unserer Bevölkerung nichts in Aussicht stellen. Ich kann als Grossrat aber einen Beitrag dazu leisten, um die Bedeutung der Grundversorgung hervorzuheben und mitzuwirken, dass auf kantonaler Ebene die Voraussetzungen geschaffen werden, damit eine flächendeckende Grundversorgung auch in peripheren Gebieten sichergestellt wird. Dazu sind die obgenannten Massnahmen zielführend. Allerdings sind diese Massnahmen nun dringlich, weil uns die Zeit davonläuft, stehen doch zahlreiche Pensionierungen von Haus- und Kinderärzt:innen in nächster Zeit an.
Dr. Christoph Zimmerli ist Partner und Geschäftsleitungsmitglied der Anwaltskanzlei Kellerhals Carrard. Er ist anerkannter Experte im Gesundheitsrecht / Life Science. Nebst seiner anwaltlichen Tätigkeit nimmt er diverse Verwaltungsratsmandate wahr, u.a. in Spitälern.
Christoph Zimmerli (FDP) ist seit 2018 Mitglied des Grossen Rates. Seit dem 1. Juni 2022 präsidiert der 51-Jährige die Gesundheits- und Sozialkommission des Grossen Rates (GSoK).
Von 2006 bis 2018 war er Mitglied des Stadtrates der Stadt Bern, den er 2017 präsidierte. Er lebt mit seiner Familie in Bern.
Die Hausarztmedizin hat einen guten Ruf. Ihr Stellenwert im Gesundheitssystem wird als hoch eingeschätzt. Teilen Sie diese Einschätzung? Und warum, glauben Sie, ist das so?
Der gute Ruf hängt massgeblich von der Qualität der Dienstleistung ab. Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, dass die Qualität der Hausarztmedizin hochgehalten wird und Schritt hält mit den modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Möglichkeiten.
Alle beklagen das Kostenwachstum im Gesundheitswesen. Gesundheitspolitik ist zur Kostenpolitik geworden. Leistungserbringer, vor allem Ärztinnen und Ärzte, werden als Abzocker dargestellt, das Gesundheitswesen als Selbstbedienungsladen einer schamlosen, mächtigen Lobby. Viele unserer Kolleg:innen empfinden diese Diskussion als geringschätzend und verachtend. Können Sie das nachvollziehen?
Das Kostenwachstum ist eine wichtige politische Diskussion. Wie die jüngsten Umfragen zeigen, sind die steigenden Gesundheitskosten eine der grössten Sorgen der Bevölkerung. Gleichzeitig erwartet diese aber die bestmögliche medizinische Versorgung. Da tut sich ein gewisser Widerspruch auf. Solange aber der Staat den Hauptteil der Gesundheitskosten – notabene zu Lasten anderer Politikbereiche – trägt, wird dieser Widerspruch nicht aufgelöst. Würde dem System Geld entzogen, so würden die Patient:innen wieder vermehrt die Grundversorger:innen statt Spezialist:innen konsultieren. Die Grundversorger:innen sind heute benachteiligt und müssten ein Interesse an mehr Kostentransparenz und mehr Selbstverantwortung haben. Den Ruf als «Abzocker» haben sie einigen wenigen Ärzten zu verdanken, die mit ihrem Geschäftsgebaren dem ganzen Berufsstand schaden. Ich kann einen gewissen Frust der Grundversorger:innen nachvollziehen, weil solcherlei Vorwürfe an ihre Adresse nicht gerechtfertigt sind.
Die Fixierung auf die Kosten ist frappant. Warum betrachten wir, und vielleicht gerade Sie als Freisinniger, das Ganze volkswirtschaftlich nicht auch von einer anderen Seite? Immerhin reden wir beim Gesundheitswesen auch von einem der erfolgreichsten, bedeutendsten Wirtschaftszweige der Schweiz. Mit beeindruckenden Wachstumszahlen dazu. Es kostet nicht nur, sondern schafft Hundertausende von Arbeitsplätzen, hat hohe Wertschöpfung. Warum, glauben Sie, spielt diese durchaus auch ökonomische Lesart keine Rolle?
Das Gesundheitswesen hat sich in den letzten Jahren zu einem wesentlichen Wirtschaftszweig entwickelt. Es herrscht aber zu wenig Markt. Die Leistungserbringer haben zu wenig unternehmerischen Freiraum. Stattdessen beklagen wir eine starke Überregulierung. Politisch wird Strukturerhaltung betrieben, anstatt einen patientenorientierten, flexibleren Ansatz zu verfolgen. So werden etwa künstlich Strukturen aufrechterhalten oder gar neue geschaffen, die es nicht bräuchte. Wieso braucht es derart viele, kaum rentable Spitäler in einer vergleichsweise kleinen Stadt wie Bern? Und wieso wird in Biel ein neues Spital gebaut, ohne dass überlegt wird, die Häuser in der näheren Umgebung darin zu integrieren? Solche Schritte begünstigen die Kostenexplosion, die vielen Leuten zu Recht Sorgen bereitet. Es ist also nicht so, dass eine ökonomische Betrachtung keine Rolle spielt, im Gegenteil. Die Bevölkerung erwartet, dass mit dem für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellten Geld haushälterisch umgegangen wird. Und das ist heute viel zu wenig der Fall.
In den letzten zehn Jahren sind die Kosten in der Hausarztmedizin nur um rund 3 % gestiegen. Viel weniger stark als überall sonst, und das trotz Tarifeingriffen des Bundesrats zugunsten der Haus- und Kinderärzte. Ausgerechnet die pragmatische, kosteneffiziente und effektive Hausarztmedizin schrumpft relativ zu den anderen Bereichen, wenn man das Kostenwachstum anschaut. Was läuft hier in Ihren Augen schief?
Es wird zu stark auf Spezialisierungen gesetzt. Die Konsument:innen haben den Anspruch, vom vermeintlich besten Spezialarzt behandelt zu werden. Sie können diesen Anspruch haben, weil sie für den grössten Teil der Kosten nicht selber aufkommen müssen. Die Förderung des Spezialistentums wird durch die Tarifstruktur gestärkt. Spitäler buhlen um Spezialist:innen, die möglichst viele Operationen durchführen, weil der Deckungsbeitrag ihrer Dienstleistungen sehr viel höher ist als derjenige eines Allgemeinpraktikers. Es wird künstlich ein Markt geschaffen, den es so nicht braucht und den es nicht geben würde ohne die staatliche Steuerung. Die Hausärzt:innen müssten also ein Interesse an mehr Kostenwahrheit und Selbstverantwortung ihrer Patient:innen haben. Es würde ihre Stellung und ihre Einkommenssituation verbessern und gleichzeitig das Gesundheitssystem entlasten.
Die Politik baut das Leistungsangebot gerade im OKP-Bereich immer weiter aus. Bei der Psychologie, in der Pflege, über eine Erweiterung von Kompetenzen der Apotheken und so weiter. Zudem haben wir medizinischen Fortschritt, die Bevölkerung wächst und wird älter. Dieselbe Politik beklagt das Kostenwachstum und will Kosten senken. Wie kann eine solche Quadratur des Kreises gelingen?
Sie kann nicht gelingen, aber sie ist symptomatisch für unsere Zeit. Der Staat als Vollversorger in jeder Lebenslage. Ich bin dezidiert gegen einen weiteren Leistungsausbau im OKP-Bereich. Zusätzliche Angebote sind «nice to have», aber nicht «need to have». Angesichts der demographischen Entwicklung und der Tatsache, dass immer weniger für immer mehr sorgen müssen, geht diese Politik nicht auf, und zwar weder finanziell noch personell. Ein Umdenken tut Not. Dazu braucht es Politikerinnen und Politiker, die den Mut haben, den Leuten transparent zu erklären, was sie ein weiterer Ausbau im OKP-Bereich in Zukunft kosten wird, und damit Verantwortung für eine nachhaltige Gesundheitspolitik übernehmen.
Das Gespräch führten Corinne Sydler und Stefan Roth.