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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 4 Min.

Ärztin werden

Carte Blanche

Ärztin werden

Was bedeutet es eigentlich, Ärztin zu werden? Einfach medizinisches Fachwissen lernen und dann anwenden? Für eine junge Ärztin ist es viel mehr als das. Anja Forrer beschreibt in der Carte Blanche von Bruno Kissling ihren Weg in die Medizin und was für eine Rolle Vorbilder und Empathie auf dieser Expedition für sie spielen.

Erinnern Sie sich an Ihren allerersten Dienst als Ärztin oder Arzt? Ich mich sehr gut. Als ich am 1. November 2019 den Flur entlang zum Chefarztbüro ging, da kämpfte in mir eine Flut an unterschiedlichen Gefühlen. Zum einen waren da Stolz, Vorfreude und Neugier. Zum anderen Unsicherheit, Angst und Nervosität. 

Zum ersten Mal in meinem Leben standen diese sechs einfachen, aber bedeutsamen Buchstaben auf meinem brandneuen Namensschild: «Ärztin». Welche Aufgaben, Herausforderungen und Emotionen dieser Job mit sich bringen wird, davon hatte ich keine Ahnung.

Am Anfang lernte ich organisatorische Dinge wie Visiten führen, Berichte schreiben, in den Tiefen und Breiten des Spitals navigieren. Auch viel medizinisches Wissen aus dem Studium musste angewandt, integriert und verknüpft werden. Diese Vorgänge geschahen in einem rasanten Tempo, ähnlich einer Wildwasserfahrt mit dem Kanu. Dabei musste ich all meine Fähigkeiten einsetzen, um in den schwierigen Stromschnellen nicht zu kentern. 

Nach nur wenigen Arbeitsmonaten wurde ich routinierter, verbesserte Technik und Wissen und «sog» Informationen wie ein Schwamm auf. Initial erschien mir das Know-How unserer Kaderärzt:innen fast grenzenlos. Erst mit der Zeit realisierte ich, dass sie während unseren Visiten und assistenzärztlichen Fleissarbeiten Fachartikel oder die Up-to.Date-Website zu den pikantesten Problemstellungen studierten, so dass sie uns jederzeit über die neusten Erkenntnisse beraten konnten. Ich tat es ihnen gleich und las viele medizinische Bücher und Zeitschriften. 

Durch brillante ärztliche Vorbilder erkannte ich frühzeitig die Wichtigkeit, die eigenen «Soft Skills» zu trainieren. Patient:innen möchten empathisch abgeholt werden. Dies verlangt viel Geschick und Aufmerksamkeit. Gelingt es einem, die Sorgen und Themen des Gegenübers zu verstehen und sie zu adressieren, eröffnen sich plötzlich neue Welten.

Durch das Aufsetzen der jeweils anderen «Lesebrille» versteht man meist gemeinsam, wohin der Weg führen soll. Im Patientenkontakt liegt viel diagnostisches und therapeutisches Potential – das zu nutzen, muss jedoch erlernt werden!

Ich begann, meine Herangehensweisen und Techniken intensiver zu reflektieren, Vorgesetzte und Peers zu beobachten und mich regelmässig mit ihnen auszutauschen. Mit jedem Dienst durfte ich neue Erfahrungen sammeln – manchmal lustig, glücklich und faszinierend, aber auch manchmal heikel, traurig oder angespannt. 

Der Prozess, in die Rolle als Ärztin hineinzuwachsen, hat kein definiertes Ende. Vielmehr ist es eine Reise, bei der man immer wieder fremdes Territorium betritt und seinen Horizont erweitert. Eine spannende Expedition über gut vierzig Berufsjahre, welche durch raue Meere, stille Seen, stürzende Wasserfälle, eingetrocknete Tümpel und wunderbare Mäanderwege führt. 

Ich möchte Sie ermutigen, in den ruhigen Momenten über Ihren persönlichen Weg zu sinnieren. Rudern Sie mit Kraft und Elan, sind Sie Kapitän:in Ihres Bootes? Führen Sie Ihren Job mit der Begeisterung aus, die Sie zum Medizinstudium geführt hat? Fühlen Sie sich manchmal noch so nervös, aber auch freudig, wie in Ihrem allerersten Dienst? 

Ihre Reflexionen, Gefühle und Erkenntnisse sind enorm wichtig. Ich würde mir wünschen, dass wir uns gegenseitig unsere Geheimnisse anvertrauen, wie wir die besten Ärztinnen und Ärzte werden können. Denn Arzt oder Ärztin zu werden ist ein grosses, kostbares Privileg – ein Leben lang!