Editorial
Ein Wort zum Jahr, oder: Corona zum Fünften
Zwei Jahre kursiert das Virus nun. Wir beobachten, informieren uns permanent, tauschen uns aus, bemühen uns, so anpassungsfähig wie das Virus zu bleiben, machen Erfahrungen – und trotzdem beschleicht mich immer mal wieder das Gefühl, dass wir kaum klüger werden.
Sicher, der erste Schrecken und ein Teil der Ungewissheit sind vorbei, aber sie machen allmählicher Zermürbung und Müdigkeit Platz, nicht nur bei unseren Patientinnen und Patienten, sondern zunehmend auch in vielen Hausarztpraxen. Viele Schritte haben wir mit Professionalität, Elan und Verantwortungsgefühl angepackt: Schutzkonzepte für Praxen innert Kürze erstellt und umgesetzt, unsere MPAs tagtäglich informiert und instruiert, damit sie den unzähligen Fragen und Ängsten unserer Patientinnen und Patienten begegnen konnten, in unseren Sprechstunden selbst unermüdlich aufgeklärt, getestet und zum Teil auch geimpft. Und nun stossen wir in der alltäglichen Arbeit an Grenzen, wenn wir merken, dass alle Zusatzefforts an Dialog und Beratung kaum mehr einen Effekt haben. Wir nehmen staunend, bisweilen konsterniert zur Kenntnis, dass ein nicht unerheblicher Teil unserer Patientinnen und Patienten nicht nur der Politik, sondern auch der Wissenschaft tief misstraut. Vieles wird in Frage gestellt, und die Bereitschaft, Informationen Glauben zu schenken, die weit entfernt sind von unserem Verständnis von informierter Entscheidungsfindung, ist teilweise gross.
Es bleibt in diesen Fällen schlicht noch die ernüchternde Feststellung, dass der Beziehungsaufbau – Kern und Erfolgsfaktor unserer eigentlichen Arbeit – zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht mehr möglich ist. Die Konsternation droht ab und zu auch in Ärger und Zynismus zu kippen, etwa dann, wenn Zeugnisse für das Umgehen von Massnahmen oder Rezepte für evidenzfreie – bisweilen nicht harmlose – Behandlungen ohne notwendige Diagnostik verlangt werden. Wenn Eigenverantwortung die solidarische Mitverantwortung für die Gesellschaft oder auch engste Familienangehörige nicht miteinschliesst. Oder wenn uns mit Triagen oder Schulschliessungen Massnahmen drohen, die wir hätten verhindern wollen und können, die wir aber politisch und als Gesellschaft bewusst in Kauf zu nehmen scheinen.
Die FMH-Präsidentin mahnt uns in der SAEZ zu Differenzierung, Dialog und Respekt. Ja, dieses Ziel müssen wir verfolgen – wenn auch wir selbst vor gelegentlichen «Emotionalisierungsschüben» nicht verschont bleiben. Akzeptieren von Unbeeinflussbarem, ohne dass wir unseren Standpunkt verlieren, Konzentration unserer Kompetenz und Ressourcen auf die Betreuung unserer Patientinnen und Patienten, die uns besonders benötigen, das ist das, was es jetzt braucht. Dialog, wo erwünscht und sinnvoll. Standhaftigkeit, Authentizität und blosse Feststellungen mit Dokumentation, wo angebracht.
Der VBHK wünscht Ihnen zum Jahresende gute Gesundheit, viel Energie und Gelassenheit für die kommenden Wintermonate – und ab und zu eine Schneeballschlacht, genügend genussvolle, humorvolle und kontemplative Stunden sowie ab und zu auch ein gutes Glas Glühwein. Um aufkommende Emotionen wieder zu glätten und gelegentliche Zermürbungsgefühle in die Schranken zu weisen. Pflegen, geniessen und schätzen wir unsere Beziehungen!