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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 17 Min.

«Es braucht relativ wenig, bis das System kollabiert»

Interview

«Es braucht relativ wenig, bis das System kollabiert»

Die Corona-Krise hat uns im Frühjahr vor Augen geführt, wie abhängig die Schweiz bei Medikamenten und Medizinalprodukten von der ausländischen Produktion ist.

Produktionsausfälle und Lieferengpässe waren aber schon vor Corona ein Problem. Einer, der es kennt wie kaum ein zweiter in der Schweiz, ist Enea Martinelli. In einem ausführlichen Gespräch erklärt der Chefapotheker der Spitäler fmi AG, warum Medikamente immer wieder knapp werden – und was man dagegen unternehmen müsste.

 

Zur Person

Dr. Enea Martinelli ist Chefapotheker der Spitäler fmi AG in Interlaken. Mit seinem Team versorgt er rund 1200 Betten im Berner Oberland mit Arzneimitteln und pharmazeutischen Dienstleistungen. Er ist Vizepräsident von Pharmasuisse und im Verein der Amts- und Spitalapotheker (GSASA) verantwortlich für das Ressort Politik. Martinelli ist mit einer Apothekerin verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder. Kontakt zur Hausarztmedizin hatte er als Sohn eines Internisten schon in frühester Jugend.

Eine turbulente Zeit liegt hinter und wohl leider auch vor uns. Welcher Tag oder Moment in den letzten 10 Monaten ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Enea Martinelli: Über die Anfangsphase der Pandemie könnte ich ein Buch schreiben. Ganz speziell in Erinnerung ist mir der Samstag nach dem Lockdown. Am Donnerstag hatte die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie Hydroxychloroquin in ihre Guidelines aufgenommen. Am Freitag war keines der Präparate mehr verfügbar. Gleichzeit hat Trump in den USA das Medikament in den höchsten Tönen gelobt. Indien hat die Grenzen für den Export des Wirkstoffes geschlossen. Mit den Kenntnissen von damals bestand also Handlungsbedarf. Nachdem die zuständigen Abteilungen beim Bund gesagt hatten, dass man das Problem auch Anfang der Folgewoche noch lösen könne. Die direkten Kontakte zum Direktor von Intergenerika, diversen Firmen und zum BAG-Direktor haben geholfen, dass wir an dem besagten Samstag sogar mitten in der Nacht Lösungen herbeiführen konnten. Am Montag waren zwei Millionen Tabletten zugesichert. Kostenlos. Mit dem heutigen Wissen war kein Handlungsbedarf, was damals allerdings niemandem klar war.

Sie sind Chefapotheker der Spitäler Frutigen, Meiringen, Interlaken. Wie und wann trat dort der akuteste Medikamentenengpass auf?

In der ersten Corona-Welle blieben wir zum Glück bisher weitgehend verschont (Anmerkung: in der zweiten Welle leider nicht...). Allerdings wären wir ohne die Behandlungseinschränkungen auch an den Anschlag gekommen. Insbesondere in der Versorgung von Midazolam, Propofol oder den Myorelaxantien. Das hat mir einige schlaflose Nächte bereitet.

Medikamentenlieferketten sind heute hochkomplex und deshalb sehr störanfällig. Können Sie dies anhand eines Beispiels erläutern?

Nehmen wir die Antibiotika: Bevor Wirkstoffe überhaut entstehen können, braucht es Chemikalien, aus denen Vorläufersubstanzen hergestellt werden. Die werden insbesondere bei den Penicillinen ausgerechnet in der Region Wuhan produziert. Dann werden diese weitertransportiert an die Küste südlich von Peking, wo dann die eigentlichen Wirkstoffe gemacht werden. Dann geht’s zum Beispiel weiter nach Indien, wo die Gefriertrockung und die Abfüllung in Ampullen gemacht wird. Schlussendlich kommt noch die Etikettierung und die Sekundärverpackung irgendwo in Europa dazu. Dabei kann überall etwas passieren. Sei es, dass Strassen blockiert sind, weil eine Region abgeschirmt wird (Wuhan), sei es dass ein Werk explodiert (so z.B. in Tanjin) oder dass es politische Spannungen gibt (z.B. zwischen China und Indien) und dadurch Grenzen blockiert sind. Manchmal fahren auch Schiffe nicht oder verlieren unterwegs Fracht. Die Produktions- und Lieferketten sind heute hochkomplex und diversifiziert und deshalb auch sehr störanfällig.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der afrikanischen Schweinegrippe, der Corona-Pandemie und Medikamentenengpässen?

Ja, das ist auch ein gutes Beispiel: Die afrikanische Schweinegrippe hat die Heparinproduktion in China sehr stark beeinträchtigt. Es wurden Schweine von Europa nach China verfrachtet, auch um den Preis des Schweinefleisches zu stabilisieren. Mittlerweile gibt’s diese Schweinegrippe auch in Europa. In Europa sind wir von der Verknappung bisher weitgehend verschont geblieben. Die USA hat jedoch schon eine Verknappung erlebt, auch wegen den politischen Spannungen. Das würde ja nicht nur das Heparin betreffen, sondern auch die fraktionierten Formen, also die niedermolekularen Heparine. Man stelle sich vor, wenn alles auf NOAK’s umstellen würde. Das wäre zwar grundsätzlich auch möglich. Nur kann man bei den NOAK’s auch nicht von heute auf morgen die Produktionsmengen anpassen. Die Dominoeffekte sind ein weiteres Problem, das eine Voraussage über zu erwartende Lieferengpässe für eine einzelne Substanz schwierig macht.

Einzelne Wirkstoffe, insbesondere günstige Generika, werden weltweit nur noch an einem Ort hergestellt, zum Beispiel Rifampicin in Südkorea. Was bedeutet dies in einer Pandemie-Situation, wie wir aktuell in einer drinstecken?

Genau das ist eines der wichtigen Probleme. Wir haben ja beim Valsartan erlebt, was das heisst. Novartis war ganz kurz davor, auch ihre eigene Wirkstoffherstellung zum gleichen Lieferanten zu verlagern. Es braucht dann relativ wenig, bis das System kollabiert. Und dann kommt das Domino und es trifft plötzlich auch alle anderen Sartane.

Dormicum ist seit März bis heute nicht mehr lieferbar, weil die Herstellerfirma anfangs Krise alles verteilt hat. Für sie war das Problem gelöst, für uns Versorger nicht. Wer ist eingesprungen?

Zum Glück haben wir in der Schweiz mit den Firmen Bichsel und Sintetica noch Ampullenhersteller. Allerdings hilft das auch nur, wenn der Wirkstoff da ist. Das war beim Midazolam zum Glück der Fall. Allerdings mussten durch den massiv höheren Bedarf einige GMP-Regeln angepasst werden. Sonst wäre die Versorgung zusammengebrochen. So konnte etwa die Quarantänezeit zur Überprüfung, ob die Sterilisation funktioniert hat, massiv reduziert werden. Das Risiko war kalkulierbar und minimal. Ich bin froh, haben die Behörden da mitgemacht. Denn eine Alternative gab es ja nicht wirklich – ausser, die Patienten auf unwürdige Art sterben zu lassen. Wir müssen Sorge tragen, dass wir in der Schweiz überhaupt noch Betriebe haben, die kurzfristig einspringen können. Das hängt auch hier im Wesentlichen von den Rahmenbedingungen ab. Wir haben bei den Parenteralia eigentlich nur noch zwei Hersteller, die relevante Mengen produzieren können. Alleine das sollte uns Sorge bereiten.

Die Gesundheitskosten steigen. Viele schreien nach niedrigeren Medikamentenpreisen, insbesondere die Politik, wo Massnahmen und Vorschläge diskutiert werden. Können Sie diese erläutern?

Ich habe nichts dagegen, wenn man Preise diskutiert. Die sind in vielen Bereichen tatsächlich jenseits der Schmerzgrenze, auch bei patentabgelaufenen Produkten. Man sollte die Diskussion aber nicht einfach blind führen, sondern gezielt. Und man sollte wissen, welche Medikamente unverzichtbar sind und welche nicht. Hier spielt der Umsatz keine Rolle, sondern es geht um die Essentialität der Produkte. Ich habe bisher auf Bundesebene noch niemanden gesehen, der sich darum gekümmert hätte. Das Thema wird wie eine heisse Kartoffel behandelt. Die Gesundheitskommission des Nationalrates hat vorgeschlagen, dass nur noch das billigste Präparat bezahlt wird und sich die Marge nach diesem richtet. So ein Modell würde die ganze Versorgungsverantwortung auf die Leistungserbringer verschieben. Sie hätten die Zeche zu bezahlen, wenn ein günstiges Medikament fehlt. Es ist auch so, dass dann kaum jemand mehr das teurere lagert. Wenn dann das billigste Medikament fehlt, dann kann das System nicht mehr reagieren. Es gibt dann schlicht keine Alternative mehr, auf die man ausweichen könnte. Das System würde vielleicht ein Jahr funktionieren, dann gäbe es ein Monopol, weil nur noch der günstigste Anbieter überlebt. Der Preis scheint offensichtlich das einzige zu sein, was derzeit zählt. Dass die Patientinnen und Patienten die Medikamente auch tatsächlich bekommen, scheint in der Diskussion dagegen völlig sekundär zu sein.

Sie haben 2015 das Portal www.drugshortage.ch gegründet. Wie kam es dazu? Was ist das Ziel?

Ich habe mich über viele Jahre für eine gute Versorgung eingesetzt. Einiges haben wir auch erreicht mit der Revision des Heilmittelgesetzes im Jahr 2010. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, überhaupt reagieren zu können, wenn etwas fehlt.

Es fehlte jedoch immer der Überblick und damit auch das Verständnis für die Mechanismen der Lieferengpässe. Wir Spitalapotheker haben immer wieder gefordert, dass die Meldepflichten beim Bund um einen risikobasierten Ansatz erweitert werden. Es ist jedoch nie etwas passiert. Dann habe ich entschieden, das selbst in die Hand zu nehmen. Wir haben zehn Jahre diskutiert. Ich hatte die Nase voll von dem Hin- und Herschieben der Verantwortung zwischen Bund und Kantonen. Mit meinen Programmierkenntissen habe ich die Webseite in einer Nacht des Ärgers zusammengestellt. Dies, nachdem die Industrie wieder einmal einen Lieferengpass versucht hat zu verheimlichen, der für uns im Betrieb grosse Konsequenzen hatte. Ob die Seite irgendwie finanziell abgegolten wird, ist mir bis zum heutigen Tag nicht so wichtig, was nicht heisst, dass die Daten für alles einfach so gratis zur Verfügung stehen. Immerhin investiere ich jede Woche eine bis zwei Stunden ins Update. In meiner Freizeit. Wir haben in der Spitäler fmi AG sehr viel in Digitalisierung investiert. Die Medikation ist stark davon betroffen. Sei es durch die elektronischen Medikamentenschränke im Spital oder durch die Verblisterung in den Heimen. Wir profitieren sehr von diesen Investitionen. Der Nachteil ist, dass man sich damit in ein Korsett begibt und darauf angewiesen ist, möglichst früh über Lieferengpässe informiert zu sein. Wenn ich weiss, wie lange so ein Engpass dauert, dann kann ich mich entsprechend darauf einrichten. Wenn ich nichts weiss, muss ich vom ersten Bekanntwerden an bereits an Ersatzlösungen denken und kann nicht warten, bis das Problem akut ist. Genau deshalb habe ich drugshortage.ch aufgebaut. Zuerst wurde ich von einigen Firmen mit Klagen bedroht. Mittlerweile machen viele aktiv mit, weil sie für sich selber auch einen Nutzen sehen.

Mit welchen Massnahmen und Instrumenten wird denn aktuell in Spitälern sichergestellt, dass es nicht mehr zu Hamsterkäufen und akuten Engpässen kommt? Wird bundesweit reguliert und koordiniert?

Innerhalb der Spitäler fmi AG haben wir das Hamstern dank den digitalen Systemen sehr gut im Griff. Das ist der grosse Vorteil dieser Systeme. Die Pflege muss sich nicht um Vorräte auf den Stationen kümmern, das machen wir.  Das Problem bestand bei den Händedesinfektionsmitteln. Dort haben wir die Verteilung zentralisiert und den Nachschub unter Verschluss gehalten. Bundesweit gibt es bei lieferkritischen Medikamenten eine Koordination zwischen den Firmen, dem BAG, dem Bundesamt für wirtschaftlichen Landesversorgung (BWL), den Kantonsapothekern und den Spitälern. Die Führungsrolle hat das BAG. Alle Spitäler melden wöchentlich die Bestände von kritischen Produkten auf der Hintergrundplattform von drugshortage.ch. Das BAG und das BWL machen den Abgleich mit den Firmen und teilen nötigenfalls aufgrund der Fallzahlen Kontingente zu. Dieses System haben wir seit Ostern in Betrieb und es hat uns über diese Zeit hinweggeholfen. Die drugshortage.ch-Plattform kommt deshalb zum Einsatz, weil wir so ohne grossen Aufwand eine Lösung hatten. Zwar auch in einer Nacht gebastelt und wenig professionell gemacht, dafür effektiv und kostenlos. Auch das war wieder eine Spontanaktion. Es ging mir schlicht auf den Wecker, Excel-Listen zu schicken, bei denen dann jemand beim BAG oder beim BWL einen ganzen Tag lang jede Woche Daten zusammentragen muss. Deshalb habe ich etwas ganz Einfaches programmiert, auch wieder in einer Nacht des Ärgers und kostenlos zur freien Verfügung.

Gibt es auch Massnahmen für Apotheken und Arztpraxen im ambulanten Bereich?

Genau das ist mein grosser Kritikpunkt. Die Massnahmen des Bundes zielen nur auf die „lebenswichtigen“ Medikamente für die Akutsituation. Dort kann man allerdings vor der Therapie entscheiden, was man tut. Bei einer laufenden Therapie ist das viel schwieriger. Das ist aber schwierig in die Köpfe zu bringen. Wir möchten gerne ein System, das sich am Risiko orientiert und die chronische Therapie mit einbezieht. Gerade bei Antiepileptika, bei Parkinsonmedikamenten und gewissen Hormonersatztherapien (Schilddrüsen, Insulin) können Ausfälle unmittelbare Auswirkungen auf die Patientinnen und Patienten haben. Es ist noch ein Weg, das in die Köpfe der Verantwortlichen zu bringen. Eigentlich müssten der Bund und die Krankenkassen ein Interesse daran haben, zu wissen, was wann und wie lange nicht lieferbar ist. Im Moment tragen die Leistungserbringer und damit die Patientinnen und Patienten die ganze Last, sei es durch Suchen nach geeigneten Ersatzlösungen oder durch das Erdulden von Therapieumstellungen.

In Deutschland wird mit einer Milliarde Euro ein Konjunkturprogramm auf die Beine gestellt, um die einheimische Medikamentenherstellung zu fördern, ebenso gibt es in Frankreich und in der EU entsprechende Programme. Was macht die Schweiz?

Die Schweiz macht einen Bericht zur Versorgungslage. Das ist alles, was ich von offizieller Seite bisher gehört habe.

Sie sagten mal „Preisfindung und Versorgung gehören zusammen“. Können Sie das erläutern?

Auch das hat verschiedene Aspekte und ist komplex. Man muss dieses Thema unter kurz-, mittel- und langfristigen Aspekten ansehen. Kurzfristig: Wenn etwas knapp ist, dann steigt der Preis. Das sind die Regeln des Marktes. Wir sprechen hier von einem Markt, bei dem Angebot und Nachfrage genauso reagieren wie beim Handel mit Rohstoffen. Und die Länder haben Systeme gebaut, die auf solche Situationen nicht kurzfristig reagieren können, sondern nur über komplexe Mechanismen. Heute zahlen Länder wie zum Beispiel Indonesien für gewisse Wirkstoffe bereitwillig mehr als wir Europäer. Das gilt sicher nicht für alle Wirkstoffe, aber für einige, wie zum Beispiel Medikamente gegen die Tuberkulose. Mittelfristig wird niemand mehr in Europa mehr in Wirkstoffproduktion investieren, weil es sich schlicht nicht lohnt. Die Konkurrenz sind Billiglohnländer, deren Hersteller wie im Falle von China zudem noch massiv stattlich unterstützt werden. Es braucht hier einen behördlichen Eingriff über Anreizsysteme. Und Anreize haben immer etwas mit Geld zu tun, das kann man leider nicht schönreden. Langfristig wird uns dieses Thema einholen, weil wir erpressbar werden. Ich höre immer wieder das Argument, dass man sich nicht durch die Pharmaindustrie an der langen Leine führen lassen sollte. Einverstanden. Nur, dann braucht es einen Plan B. Hat man keinen Plan B, geht das zu Lasten der Versorgung. Die Industrie ist diesbezüglich nun mal am längeren Hebel.

Für hochmoderne, sehr teure Therapien wie zum Beispiel Onkologika oder Biologika scheinen die finanziellen Mittel vorhanden zu sein.

Genau. Und die machen auch den grössten Kostenblock aus. Hier sprechen wir allerdings von einem Monopolmarkt mit all seinen positiven und leider auch negativen Facetten. Die Schweiz hat sich entschieden, hier den Markt völlig abzuschotten. Jetzt diskutiert die Gesundheitskommission des Nationalrates über Parallelimporte von Generika. Das ist zwar schon erlaubt, es tut’s jedoch niemand, weil es zu wenig spannend ist. Es ist aber auch eine völlig unehrliche Diskussion. Denn Parallelimport hilft primär dort, wo es überhaupt keinen Markt gibt. Und das ist eben genau dort der Fall, wo Patente schützen. Innereuropäische Parallelimporte von patentierten Produkten sind überall dort nicht zugelassen, wo der Staat den Preis festsetzt. Es gibt nur einen Bereich, der dafür in Frage kommt, und das sind eben die Arzneimittel.

Der Bundesrat schlägt ein Referenzpreissystem vor. Was sind die Chancen und Risiken?

Das Risiko ist das Gleiche wie beim Billigstprinzip: Man reduziert das Angebot. Das führt dann unter anderem dazu, dass die Firmen noch stärker auf die Rentabilität schauen. Sie vertreiben dann die wenig attraktiven Formen nicht mehr, wie zum Beispiel Sirupe für Kinder oder ältere Menschen, niedrige Dosierungen, parenterale Formen und so weiter. Leider erleben wir das bereits. Das Referenzpreissystem wird das noch verstärken. Ich habe im Vorschlag nichts gefunden, das helfen würde, diese Effekte irgendwie einzudämmen. Das überlässt man so einfach dem Zufall oder dem Goodwill der Firmen. Ich finde das verantwortungslos. Preis geht offenbar auch hier vor guter Versorgung. Eigentlich ein Armutszeugnis. Selbstverständlich darf und muss man über Preise diskutieren. Aber man muss vorher definieren, was gute Versorgung sein soll. Da braucht es etwas mehr als einfache Schlagworte. Das kann man auch nicht vom Bürotisch aus lösen, sondern muss man mit Fachleuten sprechen.

Wo sehen Sie akuten Handlungsbedarf? Welche Massnahmen wären aus Ihrer Sicht hilfreich?

Ein erster Schritt wäre es, Transparenz herzustellen auf verschiedenen Ebenen. Dabei geht es um Meldepflichten der Lieferbarkeit von kritischen Medikamenten. Nicht nur von lebenswichtigen, sondern auch von solchen, die beim Fehlen einen unmittelbaren Effekt auf die Patientinnen und Patienten haben. Transparenz braucht es auch bei der Deklaration der Herkunft. Es ist nicht einzusehen, weshalb auf jedem Lebensmittel stehen muss, woher es kommt, und bei den Medikamenten nicht einmal die Zulassungbehörde genau weiss, von wo das Medikament stammt. Weiter müsste von Lieferanten, deren Arzneimittel auf der Spezialitätenliste aufgeführt sind, verlangt werden, dass sie auf mehrere Wirkstofflieferanten zurückgreifen können. In einem ausgewogenen Verhältnis, so dass bei einem Ausfall des einen Lieferanten der andere ohne Probleme einspringen kann. Diese Lieferanten sollten sich in unterschiedlichen Kontinenten befinden.  Das kann man nicht nur einfordern, sondern das System muss so ausgestaltet sein, dass die Rahmenbedingungen dafür so sind, dass es auch tatsächlich funktioniert. Man kann keine gewinnorientierte Firma zwingen, unrentable Produkte herzustellen.

Die Grippe- und Pneumoniesaison steht vor der Tür. Klassischerweise wird der Bedarf an Paracetamol, Ibuprofen sowie Penicillinen ansteigen. Genau diese billigen Medikamente wurden während des chinesischen und indischen Lockdowns teilweise knapp. Wie können wir Grundversorger uns am besten gegen Medikamentenengpässe wappnen?

Es wäre jetzt falsch, diese Medikamente zu bunkern. Das muss man dann tun, wenn es genügend gibt, um Lager zu äufnen. Diese Situation haben wir jedoch nicht. Wenn jeder für sich schaut und einen Mehrmonatsbedarf anlegt, dann haben am Schluss jene, die auf die betreffenden Medikamente angewiesen sind, gar nichts. Wir kommen nicht darum herum, dass unsere Berufe enger zusammenarbeiten und sich regional koordinieren. Was ich leider im Alltag immer wieder erlebe, sind gegenseitige Anschuldigungen. Das ist völlig unnötig, denn unser gemeinsames Ziel muss sein die Patientinnen und Patienten optimal zu versorgen.

Das Interview wurde schriftlich geführt.