Kommentar
Eindrücke und Gedanken zur Corona-Pandemie
Bruno Kissling äussert seine ganz persönliche Sicht auf das aktuelle Corona-Geschehen. Sie hebt sich wohltuend ab vom bisweilen lauten Getöse um den richtigen Umgang mit Corona. Und sie hat eine klare Botschaft: Hausärztinnen und Kinderärzte gehören in jedes Pandemie-Konzept, weil sie Kompetenzen mitbringen, die in Zeiten grosser Unsicherheit besonders zentral sind.
Ich finde bemerkenswert: Wie wir diese Pandemie als Gemeinschaft mit vereinten Kräften bewältigen. Wie wir uns an ein zuvor undenkbares Geschehen anpassen. Wie unsere Entscheidungsträgerinnen und -träger uns entlang der Pandemie-Entwicklung mit Notrecht und immer wieder situationsangepassten Verordnungen auf verschiedenen Ebenen durch die Krise navigieren. Wie sie über Erkenntnisse, Massnahmen und Verlaufsmöglichkeiten informieren. Wie sie Bekanntes und Unbekanntes ansprechen. Wie sie auf dem Grat zwischen Fakenews, Nichtwissen und sich widersprechenden Aussagen balancieren. Wie sie versuchen, möglichst transparent, ehrlich, verständnisvoll und verständlich zu kommunizieren, ohne Angst und Panik zu schüren. Wie sie durch all das hindurch unter «try and error» sowie Beobachtung der Fallzahlen einen realisierbaren Lösungsweg durch ein Feld von «Uncertainty» pfaden. Wie Wissenschaftler unter vielen Rückschlägen um wissenschaftliche Erkenntnisse über das Virus und Therapiemöglichkeiten ringen und mit der Politik zusammenarbeiten. Wie wir als pluralistische und individualisierte Gesellschaft mit radikalen und existentiell einschneidenden Massnahmen von bisher vorbildlosem Ausmass umgehen. Wie wir uns auf das Nötige konzentrieren. Wie die Lockdown-Massnahmen die komplexe Interaktion und gegenseitige Abhängigkeit von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Natur und Gesundheit aufzeigen. Wie unsere Regierung mit Blick auf das sozio-ökonomische Ganze unvorstellbare Geldsummen zur Stützung der Wirtschaft und zum Erhalt der Gesundheit der gesamten Bevölkerung mobilisiert. Wie eine Welle der Solidarität durch unsere Gesellschaft geht. Wie die Pandemie gesellschaftspolitische und sozio-ökonomische Ungerechtigkeiten in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen aufdeckt. Wie die zahllosen dramatischen Schicksale der Erkrankten und Verstorbenen und ihrer Familien in der Flut statistischer Daten unsichtbar werden und sich unserer kollektiven Empathie entziehen. Wie während der abflachenden Pandemie-Welle unter der Lockerung der Lockdown-Massnahmen das kollektive Interesse wieder den unterschiedlichen Einzelinteressen weicht. Wie nach der ersten Welle der Streit zwischen den unterschiedlichen Interessegruppen wieder erwacht – mit einer Streitkultur, der im Grossen und Ganzen Verantwortungsbewusstsein und eine respektvolle Haltung den anderen gegenüber, eine situationsgerechte kritische Analyse sowie Offenheit für Lehren für die aktuelle zweite Welle und künftige pandemische Ereignisse attestiert werden kann.
Ich bin beeindruckt von den praktizierenden Hausärztinnen und Kinderärzten: Wie selbstverständlich und unaufgeregt sie ihre Praxistätigkeit an die einmalige neue Situation der Pandemie angepasst haben. Mit welcher Ruhe und Geduld sie ihre Patientinnen behandeln, unbeachtet von der Öffentlichkeit die abstrakten und oft widersprüchlichen Pandemie-Verordnungen auf deren persönlichen Fragen übersetzen. Mit welch kreativer Professionalität sie die verunsicherten, aufgrund vorbestehender Krankheiten besonders gefährdeten Patientinnen und Patienten durch die Pandemie führen, ihre Verunsicherung auf ein erträgliches Mass «dimmen», Covid-Kranke betreuen oder in den Tod begleiten.
Ich frage mich, ob in einem künftigen Pandemie-Konzept den Hausärzten und den Kinderärztinnen nicht ein zentraler Platz zugewiesen werden sollte? Wir verfügen über viele der für diese Aufgabe nötigen Kompetenzen: Wir nehmen immer eine Brückenfunktion zwischen Public Health und personenbezogener Medizin ein. Wir haben dezentrale, funktionskräftige und anpassungsfähige Praxisstrukturen. Wir sind «Spezialistinnen und Spezialisten für Uncertainty» aufgrund unserer Tätigkeit als erste Anlaufstelle für unselektionierte Symptome und Probleme aller Art. Wir sind den Menschen nah. Sie haben Vertrauen in uns. In der Konsultation pflegen wir eine tragende Beziehung. Wir begegnen den Patientinnen mit Empathie, Respekt und Authentizität auf Augenhöhe. Wir betrachten unsere Begegnung als Expertentreffen mit unterschiedlichen Kompetenzfeldern, der Arzt für die KrankHEIT und der Patient für sein KrankSEIN. In angemessener Kommunikation ergründen wir ihre Symptome und Probleme und darüber hinaus ihr persönliches Krankheitserleben. Wir schaffen mit ihnen eine gemeinsame Wirklichkeit aus ihren inneren Bildern, Vorstellungen, Befürchtungen, Ängsten und Erwartungen, Lebenskontexten, Ressourcen und unseren medizinischen Interpretationen. Wir informieren sie über verschiedene medizinische Möglichkeiten und ermächtigen sie für gemeinsame Entscheidungen mit Blick auf angemessene Lösungen in einem Feld von Uncertainty zwischen wissenschaftlicher Evidenz, «objektiver» statistischer Signifikanz und persönlicher Relevanz für den Patienten. All diese Essenzen sind bei jeder Begegnung von Arzt und Patientin bedeutsam für den Therapieerfolg. Ganz besonders bei einer Pandemie mit ihrer existenzbedrohenden Uncertainty.