Loading ...

Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 5 Min.

Von Venus und Mars – Gendermedizin in der Hausarztpraxis

Gendermedizin

Von Venus und Mars – Gendermedizin in der Hausarztpraxis

Bei Krankheiten wurden Frauen und Männer viele Jahre lang einfach gleich behandelt. Meistens hiess das: Die Frauen gleich wie die Männer. Heute ist die Medizin hier weiter und differenzierter. Das Gebiet der Gendermedizin hat an Beachtung gewonnen. Auch die Universitäten legen ihren Fokus vermehrt auf geschlechterspezifische und gendersensible Diagnostik und die Auswirkungen biologischer Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Behandlung.

Frauen werden oft anders krank als Männer. Diesem Umstand hat die Gendermedizin in den letzten Jahren zunehmend Beachtung geschenkt. Denn bei der Gendermedizin geht es nicht bloss um die geschlechtsspezifischen Organe.

Herzinfarkt, Depressionen und viele weitere Krankheitsbilder zeigen, dass Frauen und Männer oft nicht gleich krank werden und deshalb sowohl in der Diagnose als auch in der Therapie anders behandelt werden müssen. Es waren vor allem schwere Verläufe von Herzinfarkten bei Frauen, die die Wissenschaft endlich aufschreckten. Höchste Zeit also, diese Aspekte vermehrt auch in die Hausarztmedizin und den Praxisalltag einfliessen zu lassen.

Der Durchschnittsmann als Mass der Dinge

In der klinischen Forschung galt und gilt häufig immer noch der Mann als Mass aller Dinge. Das hat teilweise banal praktische Ursachen: Wer Frauen in eine Versuchsgruppe einbezieht, benötigt zum Beispiel mehr Teilnehmerinnen, um verlässliche Ergebnisse zu bekommen, da Hormonschwankungen durch den weiblichen Zyklus, Verhütungsmittel oder Wechseljahre berücksichtig werden müssen.

Zudem ist es leichter, neue Studienergebnisse mit alten zu vergleichen, wenn die Versuchsgruppen ähnlich zusammengesetzt sind. Das bedeutet: Wenn in früheren Studien nur Männer, oder auch männliche Tiere, getestet wurden, ist es am einfachsten, bei neuen Tests wieder nur männliche Testpersonen auszuwählen.

Das hat letztlich aber auch zur Folge, noch heute, dass zum Beispiel Medikamente, die auf den Markt kommen, nicht auf möglicherweise geschlechtsspezifisch unterschiedliche Wirkungen untersucht sind. Bis heute sind Frauen in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen unterrepräsentiert, die Medikamentenwirkungen auf den weiblichen Körper deshalb oft nicht ausreichend untersucht.

2002 wurde bekannt, dass das häufig verschriebene Herzmedikament Digoxin, das für Männer lebenserhaltend wirkt, das Leben von herzkranken Frauen verkürzt. Besondere «Gender»-Beachtung bei Patientinnen brauchen diesbezüglich in der Hausarztpraxis vor allem Cholesterinblocker, Blutdrucksenker und Diabetes-Medikamente. «Es ist wichtig, dass wir im Praxisalltag der Gendermedizin mehr Beachtung schenken. Es gibt inzwischen gute Studien und Weiterbildungen dazu», betont Corinne Sydler, Co-Präsidentin des VBHK. 

Frauen sind anders. Männer auch.

Noch heute werden Frauen mit einem Herzinfarkt im Schnitt eine halbe Stunde später in die Klinik gebracht als Männer. Die Patientinnen erkennen die Warnzeichen oft selbst nicht, weil auch sie sich an männlichen «Standard-Symptomen» orientieren.

Sie glauben an einen Magen-Darm-Infekt oder landen später mit der Diagnose Kolik auf der falschen Station. In einer Situation, in der jede Sekunde zählt. Das Broken-Heart-Syndrom ist ein anderes Bespiel, alle Anzeichen deuten auf einen Herzinfarkt hin, dabei ist die linke Herzkammer verformt – auch hier ist eine schnelle, genderspezifische Diagnose entscheidend. 

Gender spielt besonders auch auf dem Gebiet der psychischen Erkrankungen eine wichtige Rolle. Stereotypische Zuschreibungen passieren hier oft sehr unbewusst. So werden heute noch bei doppelt so vielen Frauen Depressionen diagnostiziert. Die Gendermedizin geht davon aus, dass den eher «weiblichen» Symptomen wie Angst und gedrückte Stimmung bei Männern häufig zu wenig Beachtung geschenkt wird oder diese zu Fehldiagnosen führen. 

Wie unterschiedlich Krankheiten bei den Geschlechtern verlaufen können, beobachteten Wissenschaftler auch in der Corona-Pandemie. Weltweit haben Daten gezeigt, dass mehr Männer schwerer an COVID-19 erkrankten als Frauen, obwohl sich Frauen nicht weniger infizierten.

Buchtipp:

 

 

Forschung und Ausbildung – Schlüssel fürs Umdenken

Die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses auf dem Feld der geschlechterspezifischen Medizin macht Fortschritte und erhält einen höheren Stellenwert. So engagiert sich zum Beispiel die Medizinische Fakultät der Universität Zürich mit verschiedenen Projekten für die ganzheitliche Etablierung der Gendermedizin in der Lehre.

Unter der Leitung von Prof. em. Vera Regitz-Zagrosek, einer Pionierin der Gendermedizin, werden gemeinsam mit den Fachspezialist:innen der Medizinischen Fakultät Lehrinhalte in der Gendermedizin für verschiedene Stufen des Studiums erarbeitet.

Angehende Ärtz:innen sollen bereits im Studium auf genderspezifische Unterschiede sensibilisiert und ausgebildet werden. Damit in Zukunft bei Frauen Herzinfarkte rechtzeitig entdeckt werden und Männer mit Depressionen nicht übersehen werden.