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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 7 Min.

Die Situation in der psychiatrischen Versorgung spitzt sich weiter zu

Politik

Die Situation in der psychiatrischen Versorgung spitzt sich weiter zu

Wer im Kanton Bern psychiatrische Hilfe benötigt, muss immer häufiger lange auf einen Termin warten. Grund: es gibt immer mehr Patient:innen und immer weniger Psychiater:innen. Und der Nachwuchs fehlt. Es droht dementsprechend eine gravierende Unterversorgung – doch politisch tut sich wenig.

Das Problem ist an sich benannt und bekannt, davor gemahnt wird schon lange. Jüngst auch öffentlichkeitswirksam in den Medien. Von Kliniken, Fachpersonen und Ärzteschaft oder von Organisationen wie zum Beispiel Pro Juventute: In der Psychiatrie gibt es ein Problem, es spitzt sich zu und es heisst Unterversorgung. Der Bedarf übersteigt das Angebot, es fehlt an psychiatrischen Therapieangeboten. Der Grund: Fachkräftemangel. 

Versorgungslücke wird immer grösser

Auch Betroffene im Kanton Bern ächzen darunter. Nicht erst seit Corona. «Wir haben ein eminentes Nachwuchsproblem», warnte die Psychiaterin Ursula Koelbing schon vor vier Jahren (Der Bund, 10.9.2018). Sie präsentierte Versorgungszahlen aus dem Raum Bern, die sie zusammen mit Kolleg:innen erhoben hatte. So etwa, dass die Hälfte der dort ambulant, also in der Praxis tätigen Erwachsenenpsychiater:innen älter als 60 Jahre seien. Damals, 2018. Oder dass «von unten» kaum Junge nachrückten.

Vier Jahre später hat sich die Situation weiter zugespitzt. Der Aerztliche Bezirksverein Bern Regio berechnete jüngst, dass die Zahl der in der Region Bern tätigen Erwachsenenpsychiater:innen seit 2018 um weitere 11% zurückgegangen ist. Durch Praxisschliessungen und altersbedingte Reduktionen der Arbeitspensen hat das Angebot an Behandlungsplätzen in diesen drei Jahren um 15% abgenommen.

Und das, obwohl mehr Kolleg:innen als damals über das Pensionsalter hinaus arbeiten: Waren 2018 26% der noch tätigen Erwachsenenpsychiater:innen über 65 Jahre alt, betrug dieser Anteil 2021 sage und schreibe 39%.  

«Psychiatermangel» tangiert die Haus- und Kinderärzt:innen

Die sich zuspitzende Situation in der psychiatrischen Versorgung tangiert auch die tägliche Arbeit von Hausärztinnen und Kinderärzten. Oft sind sie es, an die sich Betroffene mit psychischen Problemen oder deren Angehörige als erste wenden. Oder sie sind es, die am Rahmen von Konsultationen zu eigentlich anderen Themen auch auf psychische Probleme stossen, die einer fachärztlichen Abklärung und Behandlung bedürfen.

Die Haus- und Kinderärzt:innen spüren die angespannte Lage deshalb schon lange und immer stärker, denn im Feld der ärztlichen Grundversorgung arbeiten Hausarztmedizin und Psychiatrie eng zusammen. Sie spüren den akuten «Psychiatermangel» etwa dann, wenn es darum geht, Betroffene in geeignete Therapieangebote, sei es ambulant oder stationär, weiterzuweisen. Lange Wartezeiten für psychiatrische Behandlung sind die Folge, und diese belasten die Hausarztpraxen, die ohnehin schon mehr als ausgebucht sind, zusätzlich.

Psychisch belastete Patient:innen können in vielen Fällen nicht einfach ohne Betreuung und ohne Konsultationen sich selbst überlassen werden, bis ein Therapieplatz frei wird. Entsprechend begleiten Hausärztinnen und Kinderärzte sie in dieser Zeit weiter. Damit übernehmen sie aber gleichzeitig eine grosse Verantwortung, eine, die, zumal in heiklen, akuten Situationen, oft über deren Schmerzgrenzen und Möglichkeiten hinausgeht.

Das gilt ganz besonders zum Beispiel bei suizidalen Jugendlichen oder in Fällen von schwerer Anorexie. Bei einer Autismus-Spekturm-Problematik ist eine frühe Diagnose und Intervention wichtig und erfolgreich. In der Realität beträgt die Wartezeit mehr als ein Jahr und es fehlen Frühinterventionsplätze.

Noch gravierender als die im Artikel geschilderte Situation im Raum Bern ist jene in den peripheren, ländlichen Regionen des Kantons. So jedenfalls erleben es die dort niedergelassenen Haus- und Kinderärzt:innen. Das gilt insbesondere für die Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo Plätze in geeigneten Einrichtungen seit Jahren fehlen.

Der «Psychiatermangel» ist also nicht einfach ein Problem der Psychiater:innen, sondern auch eines der Haus- und Kinderärzt:innen. Vor allem aber ist er ein Problem der gesamten ärztlichen bzw. medizinischen Grundversorgung. Dass diese ausreichend und in guter Qualität für alle Menschen da ist, dafür trägt übrigens auch der Kanton eine Verantwortung. So wollen es die Berner Verfassung und das Gesundheitsgesetz.

Wegen Personalmangel geschlossen

39% der Psychiater:innen wären eigentlich bereits pensioniert. Aber diese leisten einen sehr substanziellen Versorgungsbeitrag: 30% der gesamten erbrachten ambulant-psychiatrischen «Arbeitsstunden» wurden von ihnen erbracht. «Das heisst, dass wenn diese in absehbarer Zeit ihre Praxistätigkeit aufgeben, fast ein Drittel der Patient:innen keine ambulante fachärztliche Betreuung mehr hat», schreibt die Bernische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychoterapie (BGPP).

Auch in der akuten und stationären Psychiatrie machte der Kanton Bern mit Schliessungen von ganzen Abteilungen oder einzelnen Betten in stationären Einrichtungen jüngst von sich reden, so etwa mit der Schliessung von je einer Akutabteilung für Erwachsene im Psychiatriezentrum Münsingen und bei den Universitären Psychiatrischen Diensten in Bern. Der Hauptgrund in all diesen Fällen: Personalmangel!

Lange Wartezeiten haben Folgen

Viele psychisch Kranke finden deshalb heute nur schwer eine:n Psychiater:in. Die Wartezeiten sind lange, für Kinder und Jugendliche fehlen adäquate Therapieplätze teilweise ganz, so dass sie in Erwachseneneinrichtungen untergebracht werden müssen. Dabei wäre es wichtig, psychische Erkrankungen rasch und angemessen anzugehen.

«Je länger man wartet», warnte Koelbing schon 2018, «desto eher 'brennt' sich eine Krankheit ein und desto grösser werde die Belastung für die Kranken und deren Umfeld.» Das bringt auch hohe Folgekosten mit sich, die sich vermeiden oder verringern liessen, zum Beispiel durch eine Rückkehr an den Arbeitsplatz oder das Verhindern von schwerwiegenden Chronifizierungen. 

Schlechter Tarif, viel Administration

Die Ursachen für den Nachwuchsmangel sind mannigfaltig. Fragt man nach den Gründen für das Ausbleiben von Nachwuchs, werden gleichwohl immer wieder die gleichen zwei genannt: die im Vergleich zu allen anderen ärztlichen Fachrichtungen tieferen Tarmed-Tarife und der hohe Anteil an administrativen Arbeiten, etwa das Schreiben von Berichten zuhanden der Versicherungen oder Behörden.

Tatsächlich lässt sich mit anderen Fachspezialitäten teilweise deutlich mehr verdienen als mit der Psychiatrie. Die Einkommen von Psychiater:innen sind vergleichsweise niedrig. Der Tarifeingriff des Bundesrats habe die Situation zusätzlich verschlechtert, monieren die Psychiater:innen. So wurde den Psychiater:innen der Stundenansatz gekürzt und sogenannte Leistungen in Abwesenheit können nur noch stark limitiert abgerechnet werden.

Auch die für das Schreiben von Berichten verrechenbare Leistung wurde stark limitiert, obwohl hier der Aufwand zugenommen hat, gerade in der Psychiatrie. Solche Rahmenbedingungen wirken sich im Nachwuchsbereich stark aus. Dass die Tarife für psychiatrische Behandlungen tief sind, tiefer als andere, das ist allen bekannt – und das hat einen Einfluss, wenn junge Ärzt:innen entscheiden sollen, in welche Richtung sie sich spezialisieren sollen. Andere Spezialisierungen erscheinen da schlicht aussichtsreicher und attraktiver.

Politisches Gegensteuer nicht in Sicht

Es besteht Handlungsbedarf. Das ist eigentlich unbestritten, theoretisch. Auch politisch. Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen haben ihn deutlich aufgezeigt und das Bewusstsein für die Situation geschärft. Entsprechende Vorstösse im Grossen Rat des Kantons Bern weisen darauf hin. Auch der Regierungsrat anerkannte, dass es «Versorgungsengpässe» gibt. Bloss scheint der Wille zu Handeln noch nicht ganz so unbedingt zu sein. In seiner Antwort auf eine entsprechende Motion von Ende 2021 lässt er jedenfalls verlauten, er habe «keine direkten Einflussmöglichkeiten auf die bestehenden Versorgungsengpässe» und seine «Handlungsmöglichkeiten» seien «sehr beschränkt.»

Angesichts der Tatsache, dass sich die Situation in sehr absehbarer Zeit weiter zuspitzen wird, jegliche Massnahmen im Bereich der Nachwuchsförderung aber eine lange zeitliche Latenz aufweisen (die Facharztausbildung beträgt in der Psychiatrie rund acht Jahre), müsste man erwarten dürfen, dass sich die Verantwortlichen im Kanton Bern etwas verbindlicher mit der Frage auseinandersetzen, welchen Spielraum der Kanton tatsächlich hat. Die Zeit drängt.