Carte Blanche
Gesichtslose Medizin
Vor dem weissen Papier sitzend wollte ich zuerst über Wellenreiten schreiben. Doch dann schien es mir, dass diese sportliche Surf-Metapher, ausserhalb eines Cartoons, für die aktuelle Pandemie nur bedingt geeignet sei. Mit Blick auf die aktuelle vierte Welle mit ihrem «Tsunami-Potential» sogar in ungewollte Richtungen gedeutet werden könnte.
Texte über die pandemische Ungewissheit mit ihren streitbaren Spannungsfeldern zwischen unterschiedlichen und sich widersprechenden Wirklichkeiten, zwischen Wissenschaft und Glaube respektive Ansichten, zwischen Wahrheit(en) und «fake news» respektive Lügen, zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen und Ansprüchen, zwischen Überzeugungen und Anschuldigungen, Toleranz und Solidarität - haben wir nicht langsam genug davon gehört und gelesen und inzwischen unseren Standpunkt, so oder anders, (zu) festgelegt?
Was mich jedoch in der Pandemie ganz besonders berührt, ist von etwas anderer Art: der Gedanke daran - und leider auch eigene Erfahrungen als Patient – , wie gesichtslos unsere Medizin und die Begegnung zwischen Arzt und Patient geworden sind. Wer jetzt krank wird und medizinische Hilfe sucht, wird seinen betreuenden, behandelnden und pflegenden Personen in der Regel nie von Angesicht zu Angesicht begegnen – nicht beim Abwägen von existentiell relevanten Entscheidungen über Tun und Lassen von Therapien bei schweren und bedrohlichen Krankheiten wie z.B. Krebs oder vor Interventionen mit ungewissen Indikationen und Resultaten, nicht mal bei der Begleitung am Lebensende gar…
Mit Blick in die Augen, auf Stirn und Haar, müssen die Kranken die Partien hinter den Masken ihres jeweiligen Gegenübers mit ihrer Fantasie ergänzen und sich ihr eigenes Bild von dessen Gesicht schaffen – und umgekehrt. Wie sehr man sich dabei täuschen kann, zeigen Fotos, die sich mit etwas Glück im Internet über diese Person «ergoogeln» lassen.
Augen und Stirn sind neben Worten, Stimme und Körpersprache zweifellos sehr wichtige Elemente der Kommunikation. Jedoch, genügen sie? Lässt sich nicht erst mit der Mimik des ganzen Gesichts die volle Bandbreite an Emotionen ausdrücken und erfassen?
Eine echte Sicht auf das Gegenüber ist unentbehrlich für eine vertrauensvolle Beziehung und gegenseitige Glaubwürdigkeit, diese zentralen Essenzen für eine gemeinsame Navigation durch die Ungewissheiten, in der sich Kranke und Betreuende, ja die ganze Medizin bewegen.
Das ist kein Plädoyer gegen das Maskentragen. Nein, ganz und gar nicht. Ich wünsche mir einfach, dass die in der Medizin tätigen Menschen und die Kranken sich ihr Gesicht wieder zeigen, im wortwörtlichen wie im metaphorischen Sinne – bei jeder Begegnung die Maske lüften, nur für einen winzigen Augenblick, sich ein aufmunterndes Lächeln schenken, schweigend und falls nötig und möglich mit angehaltenem Atem…
«CARTE BLANCHE» wird von Bruno Kissling, Hausarzt im Ruhestand, redigiert. Mal schreibt er selber, mal lädt er andere ein. Er entscheidet über Form und Inhalt. Eingeladene Autorinnen und Autoren können sich zu frei wählbaren Themen äussern: schreibend oder mit audiovisuellen Beiträgen.