Corona als Herausforderung für die Spitex
«Es braucht regionale Gefässe zur Koordination und Information»
Corona stellte die spitalexterne Pflege vor allem in der ersten Welle vor besondere Herausforderungen. Mit vielen Fragen, die sich damals akut gestellt hätten, "flog die Spitex unterhalb des Radars der Behörden". Im Interview blickt Urs Kernen, Co-Vizepräsident des Spitex Verband Kanton Bern zurück.
Die letzten eineinhalb Jahre waren für uns alle eine nie dagewesene Herausforderung. Kannst du dich noch an den Moment erinnern, in dem dir klar wurde, dass SARS-Cov-2 auch für die Spitex eine besondere Herausforderung werden würde?
Urs Kernen: An einen genauen Moment X kann ich mich nicht erinnern. Es war rückblickend eher ein schleichender Prozess. Mit der Fortdauer dieses Prozesses sind dann auch das Bewusstsein und die Herausforderungen gestiegen bzw. wurden auch zunehmend sichtbarer. Zu Beginn der Pandemie gab es nur sehr spärliche Informationen, was die Hilfe und Pflege zu Hause (Spitex) betraf. Das war mindestens am Anfang der Pandemie eine der ganz grossen Herausforderungen – was ist relevant und gilt für die Spitex, deren Klienten*innen und Mitarbeitenden. Der Grossteil bezog sich auf die anderen Bereiche des Gesundheitswesens und die Wirtschaft.
In der Covid19-Pandemie hörten und lasen wir viel von Spitälern, insbesondere Intensivstationen, die an ihre Grenzen stiessen. Gab es diese Phasen auch bei der Spitex?
Es gab im Kanton Bern, als das Testing und Contact Tracing noch nicht ausgebaut waren, infolge der Quarantäneregelungen zum Teil grosse Engpässe bei einigen Spitexorganisationen. Diese Engpässe konnten aber mit Hilfe von Nachbarorganisationen gemeistert werden. Hier im Berner Oberland hatten wir sehr lange eine gute pandemische Situation in der Spitex. Die Bereitschaft der Mitarbeitenden bei Bedarf einzuspringen war sehr gross. Wir hatten praktisch nie personelle Engpässe und konnten die geplanten und geforderten Einsätze immer leisten.
Was waren konkret die grössten Herausforderungen im Frühling 2020, zum Beginn der Pandemie?
Wie eingangs erwähnt, flog die Spitex zu Beginn der Pandemie unterhalb dem Radar der Behörden. Viele Informationen und Vorgaben waren in der Spitex nicht eins zu eins umsetzbar. Nebst dem zu Beginn sehr knappen Schutzmaterial waren auch viele ungeklärte arbeitsrechtliche Fragen eine grosse Herausforderung. Aus meiner Sicht war aber zu Beginn der Pandemie die grösste Herausforderung, dass kurzfristige Entscheidungen zu treffen waren, ohne über das nötigen Wissen und die Erfahrung zu verfügen. Aus der Sicht der Mitarbeitenden war es wohl insbesondere die Beantwortung der Fragen der Klient*innen rund um die Pandemie, die anspruchsvoll waren.
Urs Kernen ist Vize-Co-Präsident des Spitex Verband Kanton Bern
Wie sah es in der zweiten Welle im Herbst aus?
In der 2. Welle konnten wir auf gewisse Erfahrungen und vertieften Informationen aus der 1. Welle zurückgreifen. In der 2. Welle war es v.a. die Herausforderung, die Klient*innen und Mitarbeitenden immer wieder zu sensibilisieren und motivieren die erforderlichen Massnahmen einzuhalten und mitzutragen. Es war auch eine Frage der Kondition in allen Bereichen.
Kannst du die Klient*innen mit einer SARS-Cov-2-Infektion in eurer Region, welche ambulant alleine durch Spitex und Hausärzt*innen betreut worden sind, beziffern?
Wir hatten ca. 25 Klient*innen zu betreuen, die SARS-Cov-2 positiv waren. Bei mindestens so vielen bestand zuerst der Verdacht, der sich aber dann als negativ herausstellte. Genaue Zahlen könnte hier der Kanton Bern liefern – dort haben wir in einem wöchentlichen Monitoring gewisse Zahlen geliefert.
Sicher habt auch ihr substanzielle Ausfälle beim Personal verkraften müssen (Stichwort Corona-Fälle unter dem Personal, Kündigungen, Fachkräftemangel). Wie habt ihr dies aufgefangen?
Wir hatten hier einerseits viel Glück, und andererseits haben die Mitarbeitenden die verordneten Massnahmen sowohl im Privaten wie während der Arbeit sehr konsequent umgesetzt. So hatten wir sehr wenige Ausfälle, bedingt durch die Pandemie, zu verkraften. Zudem war die Bereitschaft der Mitarbeitenden wie immer sehr hoch bei Bedarf einzuspringen. Es war auch möglich von den Spitexorganisationen aus der Region Unterstützung zu erhalten.
Welche strukturellen und prozessualen Anpassungen sind bei der Spitex im letzten Jahr konkret erfolgt?
Strukturelle Anpassungen haben wir nur wenige vornehmen müssen, da wir sehr dezentral arbeiten. Homeoffice war für einen Teil der Leitung und der Administration möglich, und bezüglich der Arbeitsplatzbesetzung haben wir einige Anpassungen vornehmen müssen. Bei der Einsatzplanung haben wir wohl die grössten Anpassungen vorgenommen: galt es doch zu erreichen, dass die Mitarbeitenden möglichst zeitversetzt ihre Arbeit auf den Stützpunkten starten konnten.
Wo kam das Spitex-Personal besonders an seine Grenzen?
Ich denke, es war insbesondere das Verarbeiten und Umsetzen der zum Teil sehr umfangreichen, komplexen und häufig wechselnden Informationen, die das Personal an die Grenzen brachten. Zudem war es schwierig für die Mitarbeitenden nach der Arbeit abzuschalten. Auch fehlte der gewohnte Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen beim „Znüni“ oder Mittagessen.
Wie habt ihr die Stimmung unter den betreuten Klient*innen und deren Angehörigen wahrgenommen?
Es gab viel Unsicherheit – zumindest zu Beginn der Pandemie. Viele haben aber den aufrechterhaltenen Kontakt, und dass wir keine Kürzungen bei der Leistungserbringung machen mussten, sehr geschätzt. Gelegentlich sind wir auch auf Unverständnis gestossen – v.a. bei Angehörigen – wenn es darum ging, die Massnahmen (z.B. Masken tragen) auch zu Hause umzusetzen.
Wie hast du die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsfachleuten und Institutionen (Hausärzt*innen, Spitäler, Alters- und Pflegeheime) erlebt? Wo gibt es im Hinblick auf mögliche weitere Pandemien aus deiner Sicht Verbesserungspotential?
Zu Beginn waren aus meiner Sicht die einzelnen Leistungserbringer sehr isoliert unterwegs – jeder musste mal schauen, was er im eigenen Betrieb für Massnahmen umsetzen musste. Der Informationsaustausch zwischen den Leistungserbringern waren spärlich und nur punktuell. Seit Beginn der Pandemie gibt es den kantonalen Krisenstab der Leistungsverbringerverbände, der eine grundsätzliche Koordination der Leistungserbringer untereinander unterstützt. Es müssten Gefässe definiert sein, v.a. regionale, die eine allenfalls nötige übergeordnete Koordination und Informationsvermittlung übernehmen können. Zudem scheint es mir wichtig, gleich zu Beginn alle Leistungserbringer mit an Board zu haben. Dies war in dieser Pandemie nicht der Fall.
Hat die Corona-Pandemie auch Türen geöffnet bzw. Gutes gebracht, an dem unbedingt festgehalten werden soll?
Die Pandemie hat für mich neue Kontakte ermöglicht, die sich für die Zukunft sicher als wertvoll erweisen werden. Im Bereich der Digitalisierung hat die Pandemie in vielen Bereichen Anschubhilfe geleistet. Wir haben festgestellt, dass es auch bei der Spitex für gewisse Arbeiten ein Vorteil ist, wenn man diese von zu Hause aus erledigen kann. Wir hatten im Vergleich zum 2019 im 2020 20% weniger Krankheitsausfälle. Ich könnte mir vorstellen, dass hier die Hygienemassnahmen hilfreich waren und in einer gewissen Form weitergeführt werden sollten.
Was macht dir Sorgen im weiteren Verlauf der Pandemie, wo wagst du zu hoffen?
Sorgen vielleicht auf zwei Ebenen – einerseits, dass den Leuten langsam die Luft/Geduld ausgeht in Bezug auf die Einschränkungen. Andererseits werden aus meiner Sicht nötige Diskussionen zu wenig geführt, z.B. um die Thematik Impfen/nicht Impfen und was heisst das für unser weiteres Zusammenleben und Arbeiten. Aufgrund der letzten Monate wage ich zu hoffen, dass wir mit unserer Regierung und unserem demokratischen System einen guten Weg finden werden, auch wenn z.T. (zu)viele Akteure aktiv sind/waren.
Was wünschst du dir generell für die Zukunft, gerade auch im Hinblick auf eine gute Zusammenarbeit mit uns Grundversorger*innen?
Die Zusammenarbeit mit den Hausärzt*innen ist geprägt von grossen Unterschieden. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass die Zusammenarbeit weniger Barrieren beinhaltet und dort, wo diese bestehen, abgebaut werden können. Mit einem sehr grossen Teil der Hausärzt*innen arbeiten wir sehr gut und eng zusammen. Dafür möchte ich mich auch im Namen meiner Mitarbeitenden bedanken, und ich hoffe, dass dies auch weiterhin so bleibt.