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Das Magazin der Berner Haus- und Kinderärzt:innen

Lesedauer ca. 12 Min.

Berner Workforce-Studie 2020-2025

Hausarztmangel im Kanton Bern

Berner Workforce-Studie 2020-2025

Erstmals liegen für den Kanton Bern solide Daten zur medizinischen Grundversorgung und zum sich entwickelnden Mangel vor. Wie viele GrundversorgerInnen gibt es überhaupt? Wie ist deren Workforce ? In welchen Gebieten gibt es bereits heute und wo absehbar in 5 Jahren eine Unterversorgung?

Der Mangel an GrundversorgerInnen ist bekannt. Der Espace-Mittelland scheint davon am meisten betroffen: Ganze 72 % der GrundversorgerInnen gaben in einer Studie des universitären Institutes für Hausarztmedizin beider Basel für ihre Region einen Mangel an (1). Und im Kanton Bern? Wie viele GrundversorgerInnen gibt es überhaupt? Wie ist deren Workforce (Pensum, Orte, Dichte GrundversorgerInnen/Bewohner)? In welchen Gebieten gibt es bereits heute und wo absehbar in 5 Jahren eine Unterversorgung?

Um diese Fragen zu beantworten, entstand die Berner Workforce-Studie unter der Leitung von Dr. med. Zsofia Rozsnyai und Prof. Dr. med. Dr. phil. Sven Streit des Berner Instituts für Hausarztmedizin BIHAM, finanziell getragen von der Berner Stiftung zur Förderung der Hausarzt-Medizin HaSt, der Aerztegesellschaft des Kantons Bern BEKAG, dem Verein Berner Haus- und KinderärztInnen VBHK, der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH, dem Universitären Notfallzentrum am Inselspital und unterstützt vom Schweizerischen Gesundheitsobservatorium Obsan.

Leider gibt es kein einheitliches und tagesaktuelles Register über die GrundversorgerInnen, auch sind diese nicht alle bei entsprechenden Verbänden Mitglied oder aktualisieren regelmässig ihre Daten. Und Studien dazu haben oft einen bescheidenen Rücklauf von 30–40 %.

Wir wählten einen anderen Ansatz (siehe Figur 1):

1) Medizinalberuferegister MedReg: Über das MedReg wurden die Daten aller mit einem eidgenössischen Weiterbildungstitel Allgemeine Innere Medizin AIM / Kinder- und Jugendmedizin KJM oder Praktischer Arzt mit einer Berufsausübungsbewilligung im Kanton Bern abgefragt.

2) Die ÄrztInnen wurden brieflich und online zur Studie eingeladen und es wurden drei Erinnerungen verschickt.

3) Es folgten eine Internetrecherche sowie >400 Telefonate bei allen, die nicht schriftlich mitmachten.

Flussdiagramm der Berner Workforce-Studie.
Figur 1: Flussdiagramm der Berner Workforce-Studie.

Dieser Ablauf erlaubte uns, die Anzahl GrundversorgerInnen im Kanton Bern zu bestimmen. Von diesen machten dann 95 % brieflich, online oder telefonisch an der Studie mit.

972 aktive GrundversorgerInnen im Kanton Bern

Wir identifizierten 972 in der Grundversorgung tätige ÄrztInnen im Kanton Bern (Tabelle 1). Davon waren 851 (88 %) HausärztInnen, 121 (12 %) PädiaterInnen und 43 % Frauen. Das Durchschnittsalter lag bei ca. 53 Jahren. Aber bereits 2020 arbeiteten 129 (13 %) über 65-jährige GrundversorgerInnen, bei den HausärztInnen war sogar jede/r fünfte im Pensionsalter. Knapp 20 % der GrundversorgerInnen hatten ihr Arztdiplom im Ausland erworben. Frauen arbeiteten im Schnitt 6.4 Halbtage / Woche (64 % Pensum, da 1 Halbtag einem Pensum von 10 % entspricht), Männer 8.3 (83 % Pensum) und beide zusammen 7.5 (75 % Pensum). Gefragt nach der Versorgungssituation beklagten 67 % einen Mangel an HausärztInnen, 61 % einen  Mangel an PädiaterInnen. 60 % hatten selber einen Aufnahmestopp für Patienten (13 % kompletter Aufnahmestopp, 47 % teilweiser Aufnahmestopp). Für Patienten standen daher 2020 nur gerade 245 GrundversorgerInnen ohne Aufnahmestopp zur Verfügung. Gleichzeitig wurde gut 13 % der Arbeitslast durch Kolleginnen und Kollegen im Pensionsalter getragen. Dies impliziert, dass es bereits 2020 einen Mangel in gewissen Regionen hatte.

Tabelle 1. Basischarakteristika der GrundversorgerInnen im Kanton Bern 2020
Tabelle 1: Basischarakteristika der GrundversorgerInnen im Kanton Bern 2020

 

Dichte an Vollzeit-GrundversorgerInnen pro 1000 EinwohnerInnen

Die Versorgungssituation haben wir auch in Bezug auf die Bevölkerung analysiert, indem wir Vollzeit-GrundversorgerInnen pro 1000 EinwohnerInnen für den Kanton Bern und seine zehn Verwaltungskreise errechneten. Für den gesamten Kanton Bern lag die Dichte bei 0.75/1000, d. h., auf 1333 Patienten kam ein/e ÄrztIn. Gebiete mit tiefster Dichte waren: Frutigen-Niedersimmental (0.59/1000), Biel/Bienne (0.59/1000), Obersimmental-Saanen (0.67/1000) und der Berner Jura (0.68/1000).

Aber was ist eigentlich eine genügende Dichte? Das ist nicht einheitlich definiert. Die einen verstehen darunter eine/e Grundversorgerin/1000 Bewohner (2), andere geben an, dass pro 0.1/1000 zusätzlicheGrundversorgerInnen die Sterblichkeit abnimmt (3), und schliesslich vergleichen wieder andere die Länder mit gutem Gesundheitssystem beziehungsweise deren Quoten von GrundversorgerInnen wie zum Beispiel Kanada (OECD 1.33/1000) (4). Wir sehen im Kanton Bern aber mit einer Quote von 0.72 und fast zwei Dritteln, die zum Zeitpunkt der Befragung einen Mangel beschrieben haben, bzw. nur noch 40 %, die uneingeschränkt neue Patienten aufgenommen haben, deutliche Zeichen eines akuten Mangels.

Bis 2025 braucht es mindestens 270 neue GrundversorgerInnen

Um einen Blick in die Zukunft zu werfen, verwendeten wir einerseits die Angaben der GrundversorgerInnen, wie ihr Pensum 2025 voraussichtlich aussehen wird (wie viele Halbtage mehr/weniger als aktuell oder Pensionierung). Andererseits erhielten wir von der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion GSI des Kantons Bern Prognosen der Bevölkerungsentwicklung bis 2025 (Annahme mittleres Szenario) (5). Bis dahin wird, wenn es keine neuen GrundversorgerInnen gibt, die Dichte von 0.75 auf 0.56 (–25 %) sinken. Um die Dichte zu halten, bräuchte es 270 neue GrundversorgerInnen (wenn sie denn alle 7.5 Halbtage, also mit einem Pensum von 75 %, arbeiten würden). Besonders betroffen sind die Regionen Obersimmental-Saanen mit einem Verlust von 0.5/1000, Interlaken-Oberhasli (0.33/1000), der Oberaargau (0.27/1000) und das Seeland (0.26/1000). Die KollegInnen, die bis 2025 aufhören wollen, sind zu 73 % Männer und zu 43 % in Einzelpraxen tätig, womit eine Nachfolgelösung eine zusätzliche Herausforderung darstellt.

Modelle, wie sich die Situation entwickeln könnte

Folgende Parameter gilt es zu beachten, wenn man mögliche Szenarien der Grundversorgungssituation berechnen möchte: Wie viele Medizinstudierende werden GrundversorgerInnen, in welchem Pensum wird die nächste Generation arbeiten und wie viel Unterstützung bekommen wir künftig aus dem Ausland? In der Infografik beschreiben wir ein nach unserer Ansicht realistisches Szenario: Wenn 20 % der Medizinstudierenden den Beruf ergreifen, 20 % aus dem Ausland stammen und alle 7.5 Halbtage arbeiten würden, dann fehlen bis 2025 immer noch jährlich elf zusätzliche GrundversorgerInnen, um den Stand von 2020 halten zu können, noch ohne, dass man den bereits bestehenden Mangel 2020 verbessern würde. Gleichzeitig verzeichnen wir einen Trend zu tieferen Arbeitspensen der jüngeren Generation, und es ist fraglich, ob die Unterstützung aus dem Ausland auch künftig noch 20 % betragen wird. Entsprechende Szenarien lassen sich in der Infografik ablesen. (Datengrundlage für die Berechnungen der Szenarien stellen öffentlich zugängliche Zahlen von Unimedsuisse und der Medizinalberufekommission sowie Daten aus der aktuellen Studie dar.)

Facts und Figures rund um die Workforce-Studie im Kanton Bern 

 

Wo und welche Handlungsmöglichkeiten hat der Kanton Bern?

Studium: Der Kanton Bern hat mit der Universität, wo die Hausarztmedizin bereits gut verankert ist, sicher einen Standortvorteil, aber  mit nur einem halben Lehrstuhl für Hausarztmedizin besteht noch deutlich Nachholbedarf. Denn: Gemäss Infografik müssten sich 40 % der StaatsexamensabgängerInnen für die Grundversorgerkarriere entscheiden, um genügend GrundversorgerInnen auszubilden. In einer Umfrage bei allen Medizinstudierenden am Ende des Studiums im Jahr 2017 gaben 20 % die Hausarztmedizin als definitiven Berufswunsch an und 40 % sahen sie als interessante Option (6). Allerdings wissen wir, dass sich zwischen Studiumende und definitiver Berufstätigkeit noch viele umentscheiden können.

Weiterbildung: Seit 2008 besteht in Bern das Kantonale Praxisassistenzprogramm (PA-Programm) als erfolgreiches Modell. 2019 wurde die Stellenanzahl der Praxisassistenzen auf 35 erhöht, trotzdem ist das Programm alljährlich ausgebucht und BewerberInnen müssen abgelehnt werden. Die Langzeitevaluation des Programms zeigte zuletzt, dass 81 % der ehemaligen AbsolventInnen auch tatsächlich als GrundversorgerInnen tätig wurden und dies in fast der Hälfte der Fälle dort, wo die Praxisassistenz absolviert wurde (7). Aber möglicherweise genügt das PA-Programm alleine nicht, denn bis 2025 braucht der Kanton Bern 270 neue GrundversorgerInnen. Im Zeitraum bis 2025 bietet das PA-Programm aber «nur» 175 Stellen an, so dass auch andere Wege zur Rekrutierung gefunden werden müssen. Diesbezüglich ist das BIHAM mit zirka 180 Mentoringgesprächen (im Jahr 2020) und einem Curriculum aktiv, welches auch Rotationsstellen anbietet, um das PA-Programm ergänzend zu stärken.

Politik: Wir sind der Überzeugung, dass dies bereits wichtige Lösungsansätze sind, die in den Händen von uns GrundversorgerInnen liegen – dennoch sind die kantonalen politischen Rahmenbedingungen und die Planungssicherheit für das PA-Programm entscheidend. Auch der Kanton Bern hat im Rahmen der Pandemie sehr hohe finanzielle Belastungen in Kauf nehmen müssen und wir sind uns bewusst, dass der Moment für einen Ruf nach mehr finanzieller Unterstützung nicht ideal ist. Trotzdem kann die Politik durch ihre Beschlüsse in der Regierung oder im Grossen Rat dafür sorgen, dass das PA-Programm auch weiter finanziell gestützt wird. Weiter braucht es Massnahmen auf Ebene Bund und Kantone, um trotz des Mangels dafür Sorge zu tragen, dass die vielen Arbeiten der GrundversorgerInnen auch geschultert werden können, der Beruf attraktiv bleibt, administrativ entlastet wird und die finanziellen Rahmenbedingungen diesem grossen Aufgaben entsprechen. Denn eines ist klar: Bleiben wir passiv, dann nimmt der Mangel in der Grundversorgung zu, der Nachwuchs bleibt aus und die PatientInnen finden keine Praxis, die ihre Betreuung übernehmen kann. Dies ist nicht im Sinn der Bevölkerung, der politischen Behörden und der Ärzteschaft. Und wir wissen, dass eine gute medizinische Grundversorgung ein wichtiges Argument bei der Wohnort- und Standortwahl ist und somit zur Attraktivität eines Kantons beiträgt.

Key Messages

  1. Die Berner Workforce-Studie 2020–2025 bedeutet für den Kanton Bern einen Meilenstein, indem erstmals alle GrundversorgerInnen mit hoher Sicherheit identifiziert werden konnten und 95 % davon an der Umfrage teilnahmen.
  2. 2020 arbeiteten im Kanton Bern 972 ÄrztInnen in der Grundversorgung, im Schnitt an 7.5. Halbtagen die Woche; die Workforce war zu 43 % weiblich. 129 (13 %) der ÄrztInnen waren >65-jährig und 189 (19 %) waren ehemals ausländische KollegInnen.
  3. Es gibt keine einheitliche Definition, ab wieviel GrundversorgerInnen pro 1000 Einwohner ein Mangel besteht, aber 2020 betrug im Kanton Bern die Dichte 0.75 Vollzeitstellen/1000 EinwohnerInnen. Die Mehrheit der Befragten beschrieb einen akuten Mangel und nahm auch keine neuen oder nur noch teilweise neue PatientInnen auf. Diese Dichte nimmt bis 2025 um weitere 25 % auf 0.56/1000 ab.
  4. Um nur schon die Dichte von 2020 zu halten, benötigt es bis 2025 270 neue ÄrztInnen, wenn sie dasselbe Pensum leisten (7.5 Halbtage/Woche). Der Nachwuchs muss vor allem im Inland generiert werden. Mindestens 40 % der StaatsabgängerInnen müssten als GrundversorgerInnen arbeiten.
  5. ÄrztInnen und Politik können sich gegenseitig darin unterstützen, diesen Mangel wirksam zu bekämpfen. Die Mittel dazu kennen wir: Verstärkung der Motivation für die Grundversorgung beim Nachwuchs in Studium und Weiterbildung und durch gezielte Massnahmen wie dem PA-Programm, Mentoring und Curriculum junge KollegInnen für diesen vielseitigen Beruf gewinnen.
  6. Die aktuell verfügbaren Register (z.B. MedReg) oder Mitgliederdatenbanken können nur beschränkt herangezogen werden, um herauszufinden,welche Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung arbeiten.

Danksagungen

Ein Rücklauf von 95 % bedeutet zwei Dinge: ein grosses Engagement der Basis, an dieser Studie mitzumachen, und genügend Ressourcen, um diesen Kraftakt zu leisten. Das BIHAM bzw. Dr. Rozsnyai und Prof. Streit sowie die Projektgruppe danken allen GrundversorgerInnen für die Teilnahme und ganz speziell diesen Partnerorganisationen für die Finanzierung: Stiftung HaSt, BEKAG, VBHK, FMH und UNZ sowie den Projektpartnernim Obsan. Und schliesslich stecken hinter jeder Umfrage, Briefe verschicken und einlesen sowie allen 400 Telefonaten Menschen, denen wir enorm dankbar sind: Rahel Stierli, Susanne Kick, Liselotte Aeschimann.

Literatur

  1. Zeller A, Giezendanner S. Resultate der 4. Workforce Studie. Primary Hospital Care 2020;20(11):325–328.
  2. Dürrenmatt U, Kissling B, Marty F. Hausärztedichte im Kanton Bern 2005 –1-Minuten-Umfrage des VBH. PrimaryCare 2006;6(24):441–444.
  3. Basu S, Berkowitz SA, Phillips RL, Bitton A, Landon BE, Phillips RS. Association of Primary Care Physician Supply With Population Mortality in the United States, 2005–2015. JAMA Intern Med. 2019 Apr 1;179(4):506–514.
  4. OECD Health Statistics 2021. https://stats.oecd.org/Index.aspx?QueryId=30173
  5. Statistikkonferenz des Kantons Bern (Hrsg.). Regionalisierte Bevölkerungsszenarien für den Kanton Bern bis ins Jahr 2050. Ausgabe 2020.
  6. Diallo B, Rozsnyai Z, Bachofner M, Maisonneuve H, Moser-Bucher C, Mueller YK, Scherz N, Martin S, Streit S. How Many Advanced Medical Students Aim for a Career as a GP? Survey among Swiss Students. Praxis. 2019; 108 (12): 779–786.
  7.  Baumann K, Lindemann F, Diallo B, Rozsnyai Z, Streit S. Evaluating 10 years of state-funded GP training in GP offices in Switzerland. PLOS one. 2020; https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237533.